„Der Killer“ von David Fincher: Der vielleicht grausamste Netflix-Film des Jahres

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Michael Fassbender mit Fernrohr am Fenster
Foto: Netflix

David Fincher porträtiert in seinem neuen Netflix-Film „Der Killer“ das brutale Geschäft des Tötens. Vielleicht hat dieser Mörder mehr mit uns zu tun, als uns lieb ist.

In Mathias Enards brillantem Kriegsroman „Der perfekte Schuss“ sinniert ein Scharfschütze über seine tägliche Arbeit: „Der Einschlag, das reale Blut, ein paar Sekunden, in denen sich alles vermischt, Tod, Leben, darauf kommt es an. Ganz gleich, wie man es erreicht. Die meisten, die ich getötet habe, haben nur in den drei Sekunden gelebt, in denen ich sie ansah. Es sind Gespenster, Figuren, Masken, die überhaupt nicht sehen können. Ich hauche ihnen Leben ein, indem ich sie ansehe, ich mache sie lebendig, indem ich sie töte. Es ist ein Widerspruch, etwas, das ich selbst nicht ganz begreife. Aber ich werde es zu Ende bringen.“

Das Gegenüber erscheint nur noch im Moment seines Todes. Der objektifizierende Blick, die ganze Interaktion wird zu Gewalt. Sieht man nun den neuen Film von David Fincher („Sieben“), dann halt diese literarische Text-Passage auf schaurige Weise nach. Im Echoraum des Mordens begegnen sich Enards Roman und Finchers Netflix-Thriller, obwohl der Krieg des einen Protagonisten mit dem des anderen auf den ersten Blick wenig gemeinsam hat. Was sie verbindet, ist eine Machtfantasie, die sich mit purem Überlebensinstinkt vermengt. Was passiert, wenn das Morden zur neuen Normalität wird?

Michael Fassbender als Der Killer am Fenster
Foto: Netflix/ Venice International Film Festival

Gewalt bis an die Schmerzgrenze

Zu Beginn von „Der Killer“ steckt man bereits in einer unheimlichen Routine fest. Michael Fassbender („Shame“) spielt den titelgebenden Mörder. In einem tristen Zimmer in Paris hat er sich einquartiert und schaut durch das Fenster auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Stunden und Tage vergehen, es ist ein einziges Warten auf den perfekten Moment, um mit dem Gewehr zuzuschlagen. Mit dieser Langeweile muss man erst einmal umgehen können! Michael Fassbender wickelt das Publikum zunächst gewitzt und charismatisch um den Finger. Es birgt eine große Skurrilität, wie seine üppigen inneren Monologe das blutige Geschäft, dessen Tricks und Kniffe und Tagesabläufe beschreiben. Wie ein einstudiertes Regelwerk, das jemand so verinnerlicht hat, dass er es im Schlaf aufsagen und jederzeit praktisch wiederholen kann.

Wenig später ist von dem anfänglichen Witz nur noch wenig zu spüren. Er weicht vielmehr dem entsetzten Zusammenzucken, wenn die Gewalt in „Der Killer“ immer körperlicher, enger, immer greifbarer wird. In der härtesten Szene prügeln zwei durchtrainierte Männer mit wuchtigen Schlägen wie übermenschliche Monstren aufeinander ein. Blut wird in den unterkühlten, sterilen und atmosphärischen Bildern von Kameramann Erik Messerschmidt mit einer Kaltschnäuzigkeit und Drastik vergossen, dass man gespannt sein darf, ob ein Netflix-Film in diesem Jahr noch einmal ähnliche Kaliber auffahren wird. Gewiss, das mag immer eine Frage der eigenen Wahrnehmung und Schmerzgrenze sein. Wahrscheinlich wird es Genrefilme geben, in denen noch viel expliziter und exzessiver der menschliche Körper zugerichtet wird. Doch was diese Akte in „Der Killer“ so verstörend erscheinen lässt, ist die Engführung seiner Perspektive und Kontinuität.

David Fincher läuft mit „Der Killer“ zu alter Stärke auf

Der Regisseur Fincher und sein Drehbuchautor Andrew Kevin Walker legen bei alldem eine geschickte falsche Fährte aus. Sie geben erst vor, es würde hier tatsächlich um einen Kontrollverlust gehen. Bei dem ersten Einsatz von Michael Fassbenders Figur geht nämlich etwas schief: Anstatt ihr eigentliches Ziel zu treffen, erschießt sie durch die Fensterscheibe eine Prostituierte. Fortan gerät der Mörder selbst in Gefahr. Doch die strenge, zyklische Form von Finchers Film schleust selbst in die flüchtigen Momente einer Überwältigung, eines Schmerzes des Protagonisten nüchterne Gleichförmigkeit und Wiederholung ein.

Ist das eine Opfer erledigt, folgt einfach das nächste Kapitel: Neuer Ort, neues Ziel, neues Opfer. Und dann alles wieder von vorn. Gewalt hat ihre herausstechende Sensation verloren, sie bildet keine Zäsur mehr. Rachegelüste, welche sich später einschleichen, werden unter stoisch gelassener Maskerade versteckt und in reines Handwerk übersetzt. Eine verstörende Langeweile, die sich trotz beachtlicher Suspense-Momente dabei einschleicht, ist die geschickte Provokation, die Fincher wagt. Die Sicht seines Protagonisten formt die ganze Welt, deren grausame Ideologie sie zugleich hervorbringt und verinnerlicht. Wie kontrolliert repetitiv, aber auch nervös und hitzig diese Vernichtungsideologie in profane Tagesabläufe übersetzt wird, lässt der ausgefeilte Schnitt mitreißend spürbar werden.

Michael Fassbender in einer Straße vor einem Auto
Foto: Netflix/ Venice International Film Festival

Sind wir alle „Der Killer“?

Natürlich gab es unzählige große Mörder- und Serienkillerfilme in den vergangenen Jahrzehnten. Man denke an den dokumentarischen Ansatz von „Mann beißt Hund“, den garstigen Kunstdiskurs von Lars von Triers „The House That Jack Built“ oder die gnadenlose Gewaltästhetik von Gerald Kargls „Angst“. David Fincher hat zu diesem Genre etwas beizutragen, indem er sich die Alltäglichkeiten solcher Mörderfiguren aneignet und gekonnt in seinem langjährigen Schaffen verortet. Schon mehrfach hat Fincher von einfrierenden zwischenmenschlichen Verhältnissen, dem Verlust der Privatsphäre („Gone Girl“), von der Subjektformung in der Postmoderne („Fight Club“) erzählt. In „Zodiac“ zeigte er, wie der Killer Kultur wird. Sein neuester Film gehört zu seinen radikalsten Werken. Es lässt den ärgerlichen Netflix-Ausrutscher „Mank“ schnell vergessen und knüpft an alte Motive und Stärken an.

Fincher begreift seinen Mörder als pervertierten Prototypen eines beruflichen Globetrotters im Spätkapitalismus. Michael Fassbender spielt einen Heimatlosen, der auf gepackten Koffern sitzt und in der ganzen Welt zu Hause ist, um sie sich Untertan zu machen. Keine Sicherheiten hat er. Er zieht von einem unsicheren, gefährlichen Auftrag zum nächsten, hoffend, dass sich die Mühen eines Tages lohnen werden. Es gilt allein das Recht des Stärkeren dort draußen, wie seine Figur wiederholt beschreibt. Nur ein Einzelfall von vielen, aber was sind dann viele Einzelfälle? Der Mensch ist in Finchers Film jederzeit ein potentielles Opfer, das bereit sein muss, zum Täter zu werden, um irgendwie zu bestehen und das große Geld abzugreifen. Es gilt, zum Äußersten zu gehen, sich selbst aufzuopfern, wenn man etwas erreichen will im Leben. Bloß keine Emotionen, sie schwächen einen! Die Kälte neoliberaler Strukturen, aus denen sich Finchers Thriller entwickelt, verwandelt Personen in reine Einzelkämpfer und „Der Killer“ nimmt den Begriff beim Wort. Er treibt ihn tatsächlich bis zum Äußersten.

Eine finstere Polemik

So demonstriert es der Film: Erfolg verlangt nach fremden Opfern. Das tägliche Ringen, um im Strom zu schwimmen und sich die dicken Fische zu angeln, visualisiert Fincher im Kampf mit Messern, Fäusten, einer Nagelpistole und anderen Waffen. Nirgends kann man ihm entkommen. Irgendwann wird hier eine gruselige Drohung ausgesprochen, welche das Zuhause allein in einen Raum des Wartens auf den Tod verwandelt.

Natürlich ist das eine unendlich finstere, überzeichnete und vereinfachende Sicht der Dinge. Fincher ist jedenfalls nicht daran interessiert, allzu erhellende Ursachenforschung zu betreiben. Sein Schaffen sucht traditionell eher das Produktive in der Zuspitzung und reißerischen Skandalisierung als in einem abwägend argumentierenden Denken. Dennoch schimmern da immer wieder Anklänge einer Selbstreflexion durch und sei es allein durch die ausgestellte Stringenz, mit der er sein Publikum zur Sicht seines Protagonisten verführt.

„Der Killer“ ist letztendlich zuvorderst Genrekino; dessen ist sich Fincher offensichtlich bewusst. Seine Gesellschafts- und Zeitdiagnose funktioniert über einen zweistündigen Schockeffekt. Das Sammeln der Gedanken muss vor allem im Anschluss erfolgen, doch vielleicht kommt dieser Schock in der Überzeichnung einer kulturellen Wirklichkeit näher, als man es im ersten Moment gern wahrhaben möchte. „Der Killer“ entfaltet somit eine beklemmende Polemik, die die Welt erst in Blut tauchen und schockfrosten muss, um in ihr wieder etwas spüren zu können.

„Der Killer“ feierte seine Weltpremiere im Wettbewerb der 80. Internationalen Filmfestspiele von Venedig und wird am 10. November 2023 bei Netflix erscheinen.

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