Das Mystery-Drama „Night Sky“ bei Amazon-Streamingdienst Prime Video zeigt, wie man einen langen Spannungsbogen ohne hohle Stopfmasse aufspannt. Dahingehend sollte sich Konkurrent Netflix wieder auf alte Stärken besinnen.
Prime Video legt nach der übersinnlichen Country-Geschichte „Outer Range“ mit „Night Sky“ die nächste hochkarätige Mysteryproduktion hin. Nebenbei macht Gemischtwarenhändler Amazon dem Serien-Primus Netflix ein weiteres mal gekonnt vor, dass es kein sündhaft teures und gnadenlos überfrachtetes „Stranger Things“ braucht: „Night Sky“ punktet mit einer vergleichbar subtilen Inszenierung, Raum für gute Darsteller und Dialoge sowie einem guten Schuss lakonischer Poesie.
Darum geht es in „Night Sky“ bei Prime Video
Das ältere Ehepaar Irene und Franklin York hat ein Geheimnis. So ziehen sich die beiden Alten nämlich abends nicht zum Fernsehen auf die Couch zurück, sondern durchschreiten ein mysteriöses Portal unter ihrem Gartenschuppen und genießen im mondänen Wintergarten dahinter die Aussicht auf einen fremden Planeten.
Moment mal: Alte Leute auf Wanderschaft durch Dimensionsportale gab es doch kürzlich erst in „Outer Range“ bei Amazon Prime Video zu sehen. Und auch der nächste Handlungsschritt in „Night Sky“ ähnelt der Country-Mystery mit Josh Brolin verdächtig. Schließlich müssen sich auch die Yorks plötzlich mit einem unerwarteten Gast auf ihrem Grundstück befassen.
Doch trotz dieser zunächst unverschämt wirkenden Überschneidung der Plots ist „Night Sky“ ein völlig anderes Paar Schuhe als „Outer Range“ – und mindestens genauso sehenswert. Zwar geht es auch in beiden Serien um ältere Menschen in verzwickten Familienkonstellationen, doch das macht im Grunde gar nichts. Wichtig ist nämlich, dass die Geschichte der neuen Streaming-Serie von ihren starken Darstellern und einer wunderbar mulmigen Atmosphäre in würdevoller Langsamkeit nahezu virtuos getragen wird.
Die Kreativabteilung bei Internet-Riese Amazon scheint es begriffen zu haben: Man muss eben nicht das Rad neu erfinden, um gute Geschichten zu erzählen. Sie gut zu erzählen ist tatsächlich die Hauptsache.
Netflix hergeschaut: So erzeugt man Atmosphäre
Streamingpionier Netflix hat vor einigen Jahren mit der deutschen Produktion „Dark“ die beste Mysteryserie seit „Twin Peaks“ vorgelegt – und leider seitdem keinen würdigen Nachschub geliefert. Dabei hatte das verzwickte und unerhört dicht erzählte Zeitreisen-Drama „Dark“ eigentlich alles, um die perfekte Blaupause für zukünftige Mystery-Produktionen des Streaminganbieters zu sein.
Stattdessen arbeitet sich Netflix kostenintensiv an Mammutprojekten wie der enorm geschwätzigen und effektüberladenen Staffel 4 von „Stranger Things“ ab. Dabei würde es dem Streaminganbieter gut tun, in Zeiten bunter Disney-Konkurrenz sein Profil diametral bei der Erwachsenenunterhaltung zu stärken. Und damit ist nicht immer nur blutige Eskalation gemeint wie in der zugegebenermaßen grandiosen 3. Staffel von „Love, Death & Robots“.
Es sind in „Night Sky“ nämlich die wunderbar dargestellten zwischenmenschlichen Momente, die den langen Spannungsbogen der Haupthandlung tragen, ohne ihn jemals künstlich in die länge zu ziehen. Momente der Ehe zwischen dem treusorgenden und misstrauischen alten Tischler Franklin und seiner gebrechlichen und lebensmüden Frau Irene, das sich Anstemmen gegen die immer kleiner werdende Welt im Lebensabend, die auch nach Jahrzehnten noch unruhigen Narben familiärer Schicksalsschläge und eine Begegnung, die letztere schmerzvoll aufreisst: So gibt man Schauspielern Raum, den Zauber ihres Handwerks zu entfalten. Nicht durch tollwütige Kamerafahrten in überkandidelten Sets, wie es die neue „Star Trek“-Serie „Strange New Worlds“ versucht.
Sonnenstrahlen, die in das dunkle Haus der Yorks fallen und das gehemmte Bedürfnis, über den Tod zu sprechen: Die ruhig erzählte Geschichte von „Night Sky“ zeigt, dass nicht jede Langsamkeit in der Haupthandlung einer Serie Ausdruck von Ideenlosigkeit ist. Ein unverschämtes Beispiel geistloser Handlungsverwässerung mit stocksteifen Dialogen ist die Paramount-Serie „Star Trek: Picard“ – und selbst diese findet ihre wenigen Höhepunkte, wenn sich handwerklich brillante Oldies wie Sir Patrick Stewart und John D. Lancie im existenziellen Zwiegespräch befinden.
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Bildquelle:
- nightsky2: Amazon Studios