„Kinds of Kindness“: Ein verstörender Nachfolger von „Poor Things“

Kritik zum neuen Film mit Emma Stone, Jesse Plemons und Willem Dafoe

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Margaret Qualley, Jesse Plemons und Willem Dafoe im Bett
Foto: The Walt Disney Company Germany

Nach dem Oscar-prämierten „Poor Things“ legt Yorgos Lanthimos einen echten Publikumsspalter vor. „Kinds of Kindness“ ist einer seiner stärksten Filme.

Dreimal setzt Lanthimos‘ neuer Film an, dreimal gipfeln seine Geschichten in erschreckenden Gewaltakten. Es entbehrt sicher nicht einer gewissen Ironie, dass „Kinds of Kindness“ im Schaffen des griechischen Regisseurs ausgerechnet auf den international gefeierten und preisgekrönten „Poor Things“ folgt. Für einen Künstler, der einst mit sehr sperrigen und rätselhaften Werken zur griechischen Avantgarde gehörte, war zuletzt ein Hoch- und Endpunkt zugleich erreicht.

„Poor Things“ (im Streaming bei Disney+) hatte die viele Euphorie für seinen visuellen Einfallsreichtum und Zugriff auf (pop)feministische Diskurse zum Teil durchaus verdient. Aber es handelte sich ebenso um ein Werk, das sich einem eher ermüdenden Diskurs- und Thesenkino annäherte. Es lud mehr zur berechenbaren Selbstbestätigung denn zur Herausforderung ein. Mit dem Nachfolgeprojekt hat sich das nun wieder deutlich geändert!

Emma Stone und Jesse Plemons an einem Pool
Foto: 2024 Searchlight Pictures. All Rights Reserved.

„Kinds of Kindness“ erzählt drei groteske Kurzgeschichten

Auf die Gefälligkeit folgt jetzt ein regelrechtes Muskel- und Meta-Spiel über jene Gefälligkeit. Mit „Kinds of Kindness“ ist der Regisseur seinem radikalen, verunsichernden und grauenerregenden Frühwerk so nahe wie lange nicht. Es ist neben „Dogtooth“ und „The Killing of a Sacred Deer“ vielleicht einer seiner bislang eindringlichsten Filme. In der Art, wie er mit Normen und Tabus spielt, Ideologien und Mythen erkundet und das ganze Sozialgefüge grotesk neu zusammensetzt, zieht dieser Film innerhalb von Lanthimos‘ Schaffen eine Bilanz. Viele der gezeigten Motive sind aus früheren Werken bekannt.

Zugleich stößt „Kinds of Kindness“ als erzählerisches Triptychon neue Tore auf. Das liegt daran, dass Lanthimos dieses Mal den Konzepten, Regeln und Konstrukten seiner Versuchsanordnungen ihre Transparenz raubt. Selten hat er so unberechenbar erzählt und inszeniert wie hier. Selbst innerhalb der drei Episoden, die Lanthimos gemeinsam mit seinem früheren Co-Autoren Efthimis Filippou geschrieben hat, schält sich nur zaghaft ein durchschaubarer Plot heraus. „Kinds of Kindness“ zieht daraus eine enorm anregende Spannung.

Jesse Plemons in "Kinds of Kindness"
Foto: 2024 Searchlight Pictures. All Rights Reserved.

Stars in wechselnden Rollen

Die Frage nach dem Zusammenhang und den Verbindungen zwischen den drei Teilen gibt immer neue Rätsel auf. „Kinds of Kindness“ erzählt unverhohlen an seinen Bruchstellen entlang. Gemeinsam ist den drei Geschichten am ehesten das menschliche Streben nach Genugtuung, Zugehörigkeit und Anerkennung: im Job, in der Liebe, in Gemeinschaften, Religionen und Ersatzreligionen. Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Hong Chau und Maragret Qualley treten dabei immer wieder in neuen Rollen und Konstellationen auf.

Der erste Teil erzählt von einem Büro-Angestellten, der eine existenzielle Leere in seiner neu gewonnen Freiheit erfährt. Er buhlt mit äußersten Mitteln um die Gunst seines Chefs, der bislang sein komplettes Leben ordnete und bestimmte. Der zweite Teil erzählt dann von der Furcht vor dem eigenen Partner oder der Partnerin. Eine fremde, ausgewechselte Person scheint sich plötzlich in das gewohnte Leben zu drängen. Und der dritte Teil? Nun, wer kann schon so genau sagen, worum es in dieser Sekten-Geschichte und der Suche nach innerer Reinheit eigentlich geht? Dass „Kinds of Kindness“ seit seiner Weltpremiere in Cannes wesentlich kontroverser rezipiert wird als „Poor Things“ und ohne viel Tamtam in die Kinos kommt, erstaunt jedenfalls kaum.

Emma Stone vor einem Motel in "Kinds of Kindness"
Foto: 2024 Searchlight Pictures. All Rights Reserved.

Ein Film der brutalen Liebesbeweise

Die beschriebenen Suchprozesse, die „Kinds of Kindness“ über knapp drei Stunden verfolgt, werden allesamt ins Messer geschickt oder enden zumindest auf maximal provokanten, zweischneidigen Pointen. Menschen fügen sich und anderen Lebewesen Schmerzen und Verstümmelungen zu, begehen Morde, um in der Gunst von Personen und Instanzen zu steigen. „Kinds of Kindness“ erzählt von zeitgenössischen Formen der Leibeigenschaft und Abhängigkeit in einer hierarchisierenden Gesellschaft. Er zeigt das Leben als Abfolge verzweifelter Selbstbestätigungen. Der Mensch vereinsamt und erstarrt in diesem staubtrockenen Szenen, weil er sich und anderen nie genug sein kann.

Eine solche Zustandsbeschreibung führt Lanthimos von mehreren Seiten aus zu der ganz ursprünglichen Frage nach der Freiheit des Menschen. Die brutalen Liebesbeweise und Opfer, die dabei erbracht werden, könnten zum Teil glatt aus den Abgründen und der derben Komik mittelalterlicher Mären stammen. Überhaupt macht sich Lanthimos auch in diesem Werk einen Spaß daraus, das Antiquierte, archaisch Anmutende (archaisch, was meint das überhaupt?) sowie das Mythische und Mythologische über seine Szenen zu legen. Schon in „The Killing of a Sacred Deer“ suchte der antike Göttermythos plötzlich die angeblich rationale Gegenwart heim. In „Kinds of Kindness“ nun schleichen sich sakral aufgeladene Riten und Eindrücke in den Alltag. Am Ende straft immer wieder der (Menschen-)Gott, trotz Wundenlecken, Tränentrank, Totenerweckung und Himmelfahrt per Hundewaage. Horrorfilm und Tragikomödie sind dabei nie zu trennen. Lanthimos‘ bisweilen höchst zynische Inszenierung arbeitet erneut zwischen allen Genres.

Emma Stone vor einer Leichenhalle in "Kinds of Kindness"
Foto: 2024 Searchlight Pictures. All Rights Reserved.

Yorgos Lanthimos zeigt sich in „Kinds of Kindness“ als Meister der Verstörung

Die Kamera in Lanthimos‘ unterkühlten Bildwelten, Büroräumen und Designerwohnungen ist bei alldem, wie so oft in seinem Schaffen, meist nüchtern distanzierter Beobachter. Sie zieht sich in die Ferne oder in hinterste Zimmerecken zurück. Damit entrückt sie Figuren und Spielszenarien eher der Wahrnehmung und entfremdet sie von unserem Alltag, anstatt sie einfach nur realistisch zu reproduzieren. Nach dem überbordenden, knallbunten Pomp des vorherigen Films erscheint nun wieder alles ganz schmucklos und karg. Unterbrochen werden die Einstellungen höchstens von wenigen traumartigen Schwarz-Weiß-Fragmenten, langsamen Überblenden und neugierig lüsternen Nahaufnahmen. Sie verwandeln etwa einen Zungenkuss, sprechende Lippen, den Einsatz von Zahnseide oder auch das Auspressen einer Orange in ganz plötzliche, surreale Leinwandexzesse.

Von einem verstörenden Film zu sprechen ist immer leicht und floskelhaft, sobald etwas von allzu offensichtlichen Konventionen abweicht. Noch dazu, wenn es so drastische Darstellungen von menschlichen Trieben und Gewalttaten wählt. Doch es trifft in der Tat den Kern des Oeuvres dieses Regisseurs! Es bringt das Vertraute auf Abwege, untersucht, wie leicht es kollabieren kann, wie manipulierbar wir sind. Es bringt die Dinge in all den Experimenten aus dem Lot und lässt jenes Vertraute störend werden. Sowohl für die Figuren als auch das Publikum, das hier mit aller Konsequenz vor den Kopf gestoßen werden soll. Yorgos Lanthimos zeigt sich endlich wieder als der große Meister einer solchen filmischen Verstörung. Er erreicht die Qualitäten, die er früher einmal bewies und hoffentlich noch oft beweisen wird.

„Kinds of Kindness“ läuft seit dem 4. Juli 2024 in den deutschen Kinos.

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