Wenn Fitnessstudios, Schulen und Kirchen ihre Türen schließen, finden selbst TV-Verächter im Fernsehprogramm wichtige Lebensinhalte wieder: Die Senderlandschaft hat in Rekordzeit auf die Krisensignale reagiert und das Programm wird so zu Lehrer-Ersatz, Personal Trainer und spiritueller Anlaufstelle in Zeiten sozialer Isolation.
Wenn Marcel Reich-Ranicki das Hier und Heute nur miterleben könnte: Grimmig hatte der berühmte Literaturkritiker seinerzeit im Jahre 2008 den Deutschen Fernsehpreis abgelehnt und den versammelten TV-Machern die Leviten gelesen, dass selbst den gefasstesten Medien-Profis das eingefrorene Lächeln aus dem Gesicht fiel. Mit dem zeitgenössischen Trash-TV wollte der schlagfertige Literaturpapst sich nicht assoziiert wissen, in seinem Rundumschlag auf der Kölner Galabühne warf er den Programmverantwortlichen gröbste Verfehlungen auf ganzer Linie vor. Und wer den endlosen laufenden „Promi-Fleischwolf“ (herzlichen Dank, Oliver Kalkofe) und die voyeuristische Zurschaustellung der Abgründe prekärer Existenzen im Privatfernsehen in den vergangenen Jahren mitverfolgt hatte, musste Reich-Ranicki anhand der klaren Faktenlage in größten Teilen seiner Kritik zustimmen.
Entertainment ist nicht genug
Nun ergibt sich gerade krisenbedingt eine veränderte Gemengelage: Die täglichen Anlaufstellen für sportliche Aktivitäten, soziales Miteinander sowie Bildungs- und Kulturvermittlung mussten im Rahmen der Corona-Epidemie bis auf weiteres geschlossen werden – und Deutschland harrt ebenfalls geschlossen in den heimischen vier Wänden aus. Nach ein paar Stunden (oder Tagen) scham- und schonungsloser Netflix-Völlerei stellt sich jedoch so manchem dann doch die kritische Frage, ob ein reines Unterhaltungsprogramm den wesentlich diverseren Input eines echten gesellschaftlichen Lebens ersetzen kann. Kurz gesprochen: Nicht im Traum.
Die auf Massenbespaßung durch einen endlosen Strom an Unterhaltungsformaten ausgerichteten Streamingdienste haben sicher in Zeiten der häuslichen Isolation von Millionen Menschen auch Hochkonjunktur – doch erschöpft sich deren Leistungsangebot eben größtenteils in Entertainment-Angeboten ohne Aktualitätsbezug. Letztere führen sich viele auch gerne mal im Binge-Modus zu – an Sonntagen mit Nieselwetter oder krankgeschrieben auf der Couch. Doch irgendwann wollen die Allermeisten zurück in den Yoga-Kurs, das Fitnessstudio – oder eben auch in die Kirche. Und genau das geht derzeit nicht wirklich.
Deus ex Machina: Lineares Fernsehen
Hier werden die Anbieter linearer Fernsehprogramme nun zu unerwarteten Helden des Alltags, der so in seiner eigentlichen Form kaum noch zu existieren scheint: Bildungsangebote und pädagogisch wertvolle Kinderprogramme wurden im Kontext der bundesweiten Schulschließungen unverzüglich massiv ausgeweitet und ermöglichen neben reiner Ablenkung des Nachwuchses durch eine kostenlose Amazon-Kinderfilmbibliothek auch die Aufrechterhaltung einer Art Alltagsstruktur. An der mangelt es natürlich nicht nur den Kleinsten: Wer sonst durch seine festen Sporttermine in Gruppen und Vereinen zur körperlichen Ertüchtigung kam, muss sich jetzt ohne Gruppenzwang und Übungsleiter fit halten. Auch hier reagieren die TV-Sender prompt und selbst Pay-TV-Anbieter rufen kostenlos zugängliche lineare Programme ins Leben, die sich an der Bedarfslage der Bevölkerung orientieren.
Nicht nur für regelmäßige Besucher von Gottesdiensten oder anderen Zusammenkünften im Sinne des Seelenheils ergibt sich gerade auch ein erhöhter Bedarf an Trost, Zuversicht und Gemeinschaftsgefühl: Viele Deutsche blicken anhand der drohenden – oder schon jetzt einschneidenden – wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Epidemie in eine ungewisse Zukunft, die gerade neben akuten gesundheitlichen Sorgen viele Menschen zusätzlich verunsichert. So ergibt es nach anfänglicher Verwunderung durchaus Sinn, dass einem kleinen Programmhinweis auf die gestrige Übertragung des päpstlichen Segens bei DIGITAL FERNSEHEN auffällig großes Interesse zuteil wurde. Die überdurchschnittlich guten TV-Quoten für entsprechende Übertragungen in den vergangenen Tagen unterstreichen diese Beobachtung nur.
Dass neben der großen Nachfrage im Hinblick auf Bildungsinhalte, Sportprogramme und eben auch Gottesdienste auch das pädagogisch oder spirituell weniger wertvolle Format „Promis unter Palmen“ beim Publikum erstaunlich gut wegkam, würde in diesen Tagen wahrscheinlich sogar Marcel Reich-Ranicki verzeihen. Denn eins ist klar: Das immer wieder zum Auslaufmodell erklärte klassische lineare Fernsehen zeigt gerade, wie wichtig es doch sein kann – auch für die Zukunft.
Bildquelle:
- tv-gottesdienst: Richard W. Schaber