Sieben Jahre sind seit „The Revenant“ vergangen, jetzt kehrt Oscar-Preisträger Alejandro González Iñárritu mit dem Netflix-Film „Bardo“ zurück. Sein Mix aus Charakter-, Gesellschaftsdrama und Kinozauber erschöpft.
Das Abheben fällt noch schwer. Ein paar Schritte Anlauf, Absprung, Schweben, Absturz. Die ersten Einstellungen von „Bardo“ sind aus der Sicht eines Schattens gefilmt, der angestrengt durch die Wüste rennt. Erst nach einiger Zeit gelingt es ihm, in den Himmel zu fliegen, von oben auf die Welt zu schauen. Und so versucht auch sein Regisseur, Alejandro González Iñárritu, sprichwörtlich abzuheben. „Bardo“ ist ein Autorenfilm, für den sein Schöpfer die gesamte Karriere mit allen Motiven in die Waagschale wirft. Es scheint ganz so, als habe da jemand sein Opus magnum drehen wollen. Solche kalkulierten Versuche scheitern gerne. „Bardo“ verhebt sich gewaltig an den eigenen Ambitionen.
Iñárritu erzählt noch einmal von Mexiko, von den USA, Migration, von Mythen und Fäden, die das Schicksal zwischen einzelnen Figuren knüpft, durchwirkt mit autobiographischen Elementen. Vor allem setzt er den ästhetischen Bombast seiner vorherigen Filme fort: Iñárritu ist einer, der die illusionistischen Mittel des Kinos mit großen Überwältigungsgesten ausspielt. Alle markanten Zutaten des Regisseurs kommen in „Bardo“ zusammen. Genauer gesagt: „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“, so lautet der vollständige Titel seines neuen Films.
Im Kern geht es um eine Existenzkrise in der Mitte des Lebens, eine Nabelschau inmitten größerer Zusammenhänge. Silverio heißt Iñárritus Protagonist, ein Journalist und Filmemacher, der mit seiner Familie zwischen den USA und Mexiko hängt. Zwischen alter und neuer Heimat, Familie und Beruf. Außerdem: zwischen Diesseits und Jenseits. „Bardo“ springt wild in Zeit und Raum umher, haucht seiner Welt magischen Realismus ein, unterscheidet nicht zwischen Wachen und Träumen. Irgendwann sind auch Leben und Tod kaum noch zu trennen. Hölle und Himmel sind das Ziel.
Verschlingende, wuchtige Bilder
Dieser Film ist, das muss man ihm lassen, imposant anzusehen. Wie fast alle Werke des Regisseurs. Iñárritu zeigt wieder seine Vorliebe für lange, gleitende Einstellungen, die Bilder schaffen, als wären sie für Installationen und Galerien bestimmt. So viel inszenierte Schönheit auf einmal, dass sie sich nach kurzer Zeit in Gleichförmigkeit erschöpft. Drei Stunden dauert „Bardo“, jede Sekunde davon will die vorherige an Opulenz und Kreativität übertreffen. Das Gegenteil ist der Fall: Mühsame Leere stellt sich ein.
Iñárritus angeberische, imposante ästhetische Ausgestaltung findet mit ihrem Drehbuch selten zusammen. Eigentlich lässt sich „Bardo“ nämlich auf eine äußerst intime Geschichte herunterbrechen, die von ihrem Regisseur nur auf XXL-Format überzogen wird. Iñárritu verhandelt das Drama einer Familie, die vom Unglück heimgesucht wurde, die wieder zusammenwachsen und ihre Identität finden muss, die mit ihrem migrantischen Hintergrund und dessen Wahrnehmung in der Welt hadert. Doch das reicht Iñárritu nicht, ein Epos muss es werden, keiner dieser sogenannten „kleinen“ Filme.
Und so muss in grässlich aufgeblasener Weise über Journalismus, über die Medienbranche, das Filmemachen, die Geschichte Amerikas, über Moral diskutiert werden, gepaart mit surrealistischem Ballast. Irgendwann begegnet der Protagonist dem Eroberer Hernán Cortés im Zwiegespräch auf einem riesigen Leichenberg. Ihr Treffen entpuppt sich als Film im Film. Im Zweifel kann sich „Bardo“ immer aus der Reserve ziehen, sich über die eigene verkopfte Struktur amüsieren, sich selbst ironisieren.
Ein Anker fehlt
So wundersam und abgedreht viele Passagen auch anzusehen sind: „Bardo“ ist so überdreht in seinem thematischen Gewimmel, dass es sich ihre Substanz selbst aus allen prunkvoll überschminkten Poren presst. Jede Intimität, jeder eindringlichere Charaktermoment stirbt in üppigen Weitwinkelaufnahmen und schwerelosen Kamera-Choreographien. Jedes Zimmer muss Panorama werden, die Welt hineinlassen. Natur erobert sich die Kultur: Wüstensand und Wasser durchschwemmen Räumlichkeiten. Eine Bahn wird zum Fluss. Die Haustür führt hinaus in die Wüste Jenseits. In seinen schrecklichsten Momenten erinnert „Bardo“ an Terrence Malicks „The Tree of Life„.
Iñárritus Filmexperiment zerfällt auch deshalb, weil sein Protagonist die verzweigten Einzelteile nicht zusammenhalten kann. Der von Daniel Giménez Cacho gespielte Silverio ist weder ein echter Sympathieträger noch dringt Iñárritu vollends zu dessen Facetten durch. Denn wir wissen ja, dass seine Wahrnehmung unzuverlässig ist. Verloren im eigenen chaotischen Werk ist dieser brüchige Geist, durch dessen Augen wir Iñárritus Kulissenschieberei durchleben und durchleiden. „Bardo“ treibt ihn durch eine nicht enden wollende filmische Zaubershow, bei der man so oft „Oh“ und „Ah“ rufen soll, bis einem jegliches Staunen vergeht.
Ruhigere Momente überzeugen
Insofern passen die ersten Eindrücke: der Boden unter den Füßen schwindet. „Bardo“ ist so in seine aufwändigen Tricks, Täuschungen, Verwandlungen, Sets und Choreografien vernarrt, dass ihm ein Gespür für das Wahrhaftige verloren geht. Es geht ja anders, auch das wird deutlich. Eine der stärksten Szenen ist die einer Seebestattung: ein pathetischer, aber angenehm reduzierter Moment, in dem der Film bei sich ankommt, bevor er in die nächste absurde Schlinge abbiegt. Alles wirbelt und dreht sich, irrt und halluziniert durch die mystisch aufgeladenen Traumwelten. Absonderliche Spielereien verschütten Nachdenkliches. Jede Menge filmische Arbeit gibt es da zu bestaunen, wenig Leben.
„Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ feierte seine Premiere im Wettbewerb der 79. Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Am 16. Dezember wird der Film bei Netflix erscheinen und vorher für limitierte Zeit in den Kinos zu sehen sein.
Bildquelle:
- bardo-netflix: Netflix
- bardo-netflix: Netflix