„Disclaimer“ bei Apple TV+: Cancel Culture in Serie

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Cate Blanchett in "Disclaimer"
Foto: Apple TV+

Alfonso Cuarón erzählt in „Disclaimer“ vom Untergang einer gefeierten Journalistin. Bei den Filmfestspielen von Venedig feierte die Serie von Apple TV+ Premiere.

Kann ein Kunstwerk gefährlich sein? Können Fakt und Fiktion so eng beieinander liegen, dass sie ein ganzes Leben aus den Angeln heben? Alfonso Cuarón („Gravity“, „Children of Men“) mag vielleicht nicht zu der großen Fiktionstheorie ausholen, die seine neue Serie zunächst verspricht. Doch sie vermag aus derlei Fragestellungen eine facettenreiche Charakterstudie zu stricken, die sich ausführlich in die Abgründe zweier Familien begibt. Am Anfang von „Disclaimer“ steht ein Schlüsselroman. Also ein Roman, der vermeintlich reale Ereignisse mit leichten Verschiebungen und Umbenennungen erzählt. Sie erschließen sich jenen Lesern, die über die nötigen Informationen verfügen, welche Personen und Begebenheiten damit eigentlich gemeint sind.

Foto: Apple TV+

Hollywood-Star Cate Blanchett spielt in Cuaróns Siebenteiler, der in Venedig Premiere feierte, eine gefeierte, preisgekrönte Journalistin namens Catherine Ravenscroft, die plötzlich ein eigenartiges Buch erhält. „The Perfect Stranger“, so lautet der Titel. Der perfekte Fremde. Geschildert wird darin eine Geschichte, die verblüffende Parallelen zu Catherines Urlaubserlebnissen vor einigen Jahren aufzuweisen scheint. Fortan gerät die Journalistin in eine verheerende Abwärtsspirale, die ihre ganze Familie mit sich reißt. Der Autor des Romans scheint eine alte Rechnung mit Catherine begleichen zu wollen. Was Cuarón aus diesem psychologischen Thriller über Begehren, Missbrauch und Machtgefälle entwickelt, ist eine Auseinandersetzung mit den Bildern, die sich Menschen von anderen Menschen entwerfen. Mal als erotische Fantasie, mal als Hassobjekt größter Rachsucht. Mal im Blick auf ein Foto, mal im entfernten Blick durch eine gläserne Hausfassade.

„Disclaimer“ führt seine eigene Fiktion aufs Glatteis

Es umfasst die engsten Familienangehörigen, deren Hinterlassenschaften unter Betten und in versteckten Fächern, aus denen sich andere dann eine Biographie zusammenpuzzeln. Es umfasst all die Rätsel und Wissenslücken im Verhalten des sozialen Umfelds. Was verschweigen die Personen, die man zu kennen glaubte? Anhand von Äußerlichkeiten werden Rückschlüsse auf größere Zusammenhänge gezogen. Nur, welche Wirklichkeit bastelt man sich daraus? Wie kollidiert sie mit den tatsächlichen Erfahrungen des Gegenübers?

Cuarón wählt für solche Ungewissheiten eine passende filmische Form, indem er von Folge 1 an nicht nur verschiedene Perspektiven und Handlungsstränge auslegt, die sich im Laufe der Serie kreuzen, sondern auch die fiktionalen Seiten der einzelnen Szenen selbst ausstellt. Sie schummern in altmodischen Vignetten und Überblenden auf, verwischen die Ebene des Films mit der Ebene des Romans. Manchmal ganz schleichend, manchmal ganz offensiv. „Disclaimer“ ist eine Serie über Eindrücke, die ihre eigene Objektivität in Frage stellen. Gerade die Rückblenden zu einem Urlaub, in denen eine Reihe sehr ausführlicher sexueller Begegnungen stattfindet, ist dabei so hemmungslos überhöht und an der Grenze zum lachhaften Softporno inszeniert, dass ihnen eine interessante Verunsicherung gelingt. Hätte man zu den Sexszenen auch noch „Je t’aime“ im Hintergrund eingespielt; es würde nicht weiter verwundern.

Foto: Apple TV+

„Du bist sowas von gecancelt!“

Umso interessanter, wenn „Disclaimer“ irgendwann darauf verweist, wie sehr man sich in dieser überzeichneten Fiktion und ihren hypnotischen, teils eindrucksvoll choreographierten, zerfließenden Einstellungen verloren hat. Bruno Delbonnel („Die fabelhafte Welt der Amélie“) und Emmanuel Lubezki („The Revenant“) hinter der Kamera tauchen die Show in einen verführerischen Look. Gerade Lubezkis Talent, längere Plansequenzen zu inszenieren, kommt hier wiederholt zum Tragen. Man ertappt sich, wie man dem vorgegaukelten Wahrheitsgehalt und den Weiten der Bilder auf den Leim geht, ehe die Ereignisse noch einmal aus einer anderen Perspektive geschildert werden.

Cuarón erzählt damit eine Geschichte, die eindeutig auf gegenwärtige Diskurse rund um das Schreckgespenst der Cancel Culture anspielt. Er zeigt, wie anhand von Ausschnitten, fragmentierten Bildern und Tatsachen wiederum größere Bilder zurechtgestrickt und ausgeschlachtet werden, um Personen zu Fall zu bringen. „You are so canceled“, ruft eine Kollegin Catherine zu, nachdem es zu einer Eskalation im Büro kommt. Ringsherum: gezückte Smartphones. Catherines Entgleisung, nachdem man ihr vermeintlich auf die Schliche gekommen ist, wird im Netz landen. Noch ahnt niemand, was wirklich hinter dem Vorfall steckt.

Das mag gewissen Menschen Wasser auf ihre Mühlen schütten, die keinen Tag verstreichen lassen, vor der ominösen Cancel Culture zu warnen und an anderer Stelle selbst gern mit dem Finger auf andere zeigen, sobald es den ausgemachten politischen Gegner trifft. Von einer potentiellen Rezeption abgesehen, mag die Beobachtung und Warnung von „Disclaimer“ dennoch nicht falsch sein. Sie ist nur symptomatisch für eine Zeit, der das Differenzieren von Fakt und Fiktion und das Sortieren von begrenzten Perspektiven zunehmend Schwierigkeiten bereitet. Das Problem ist nur: „Disclaimer“ verpasst ein finales Fragezeichen. Er lässt zu wenig offen. Denn spannend wäre es schließlich geworden, wenn auch die Erzählung der Gegenseite, also die angebliche Richtigstellung bezweifelt werden könnte.

Foto: Apple TV+

Todeskampf im Meer

Die Serie schlägt sich hierbei zu eindeutig auf eine Seite. Sie vollzieht ihre Täter-Opfer-Umkehr mit erwartbaren Kniffen, ohne ihnen noch einmal einen weiteren produktiven Bruch zu verleihen. Außerdem drängt sich zunehmend der Eindruck auf, dass es keine gute Idee war, aus der vergleichsweise kurzen Romanvorlage der Autorin Rénee Knight eine siebenteilige Serie zu pressen. Dieses Auswalzen und Ausschmücken erlaubt in den ersten vier Episoden noch ein Intensivieren bestimmter Einzelmomente. In den letzten drei Folgen gerät „Disclaimer“ allerdings zu einem recht zähen, repetitiven Unterfangen, dessen Plot unter anderen Umständen auch zum Finale eines einzelnen, vielleicht dreistündigen Spielfilms getaugt hätte.

Seine inszenatorische Meisterklasse hat Cuaróns exzellent besetzte Serie ohnehin nach der Hälfte überschritten. Sie erreicht ihren Zenit in der vierten Episode, wenn sich der mexikanische Regisseur einmal mehr in die Fluten wagt. Schon in seinem Netflix-Film „Roma“ gab es eine atemberaubende Szene in der Strömung und den gefährlichen Wogen des Ozeans zu sehen. In „Disclaimer“ nun geht es erneut um einen Todeskampf im Wasser. Es ist eine der wahrscheinlich intensivsten, atemberaubendsten Sequenzen des Serien-Jahres. Und sie enthüllt ein immenses inszenatorisches Talent, ein erzählerisches Ereignis, dessen Ausgang zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon bekannt ist, dennoch mit einer solchen Hochspannung zu versehen.

„Disclaimer“ feierte seine Weltpremiere bei den 81. Filmfestspielen von Venedig. Ab dem 11. Oktober 2024 erscheint die Serie wöchentlich bei AppleTV+.

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