„Axiom“ ist eine Film-Sensation: Wie wir uns betrügen

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Auf den Spuren eines Lügners: Jöns Jönssons raffinierte Hochstapler-Komödie „Axiom“ startet diese Woche in den Kinos und hat so einiges über menschliche Identität zu sagen.

Warum geht man denn ins Kino? Doch in der Regel, um etwas über das Menschsein zu erfahren, über unser Miteinander in und mit der Welt. Nun gibt es zahllose Filme, die dabei allzu bemüht sind, Schranken einzureißen, sich auf gemeinsame Werte zu besinnen, Zuneigung und geteiltes Leid zu beschwören. Dagegen ist per se auch gar nichts einzuwenden. Aber was ist denn – und da wird Kino besonders interessant – wenn diese Überwindung, dieses vertraute Zusammenwachsen vom Trugschluss lebt?

Wenn Kino einen Keil entdeckt oder ihn gerade erst zwischen uns treibt, der zwickt und reibt und schmerzt und sich so leicht nicht aus der Welt schaffen lässt. Der irgendetwas Mysteriöses am Menschen entdeckt, das aber ein gesellschaftliches Miteinander erst möglich macht oder umgekehrt: Es gnadenlos scheitern lässt. „Axiom“ von Jöns Jönsson ist ein solcher Keil, ein filmischer Versuch, all die Erzählungen, mit denen wir uns der Welt darstellen, aufs Glatteis zu führen. Und vor allem: Sie in ihrer Konstruktion und ihren Geheimnissen zu begreifen.

Segeltörn mit schrägem Twist

Jönssons Hauptfigur Julius (Moritz von Treuenfels) ist eine, die sich das Publikum auf Abstand hält. Und so verharrt auch die Kamera: auf Abstand. Nüchtern observierend, wie ein konzentrierter Feldforscher, sorgsam den Blick hin- und herschweifend über die Menschen, während das Unbehagen stetig wächst. Julius lernen wir als Museumswärter kennen, der wachsam neben den Kunstwerken steht und notfalls eingreift, wenn mal wieder ein Gast sein Getränk an diesem geweihten Ort auspackt. Am Wochenende will er mit Bekannten einen Segeltörn mit dem Boot seiner adligen Eltern unternehmen, doch an dem Plan ist etwas faul.

Auf der Fahrt erzählt Julius seinen Mitreisenden eine Geschichte, die er eben noch im Bus von Fremden aufgeschnappt hat und nun als seine eigene ausgibt. Am Ziel rastet er plötzlich wegen fehlender Schwimmwesten aus und dabei bleibt es nicht: Julius ist notorischer Lügner und Hochstapler, eine Trickstergestalt, die sich windet und schlängelt und ihren Kopf immer wieder aus der Schlinge zu ziehen weiß. Die man einfach nicht zu fassen bekommt – weder das Publikum noch der Film selbst, dessen Struktur immer weiter ins Episodische und Anekdotische zerfällt.

Denn er macht es einem ja unmöglich, sich an etwas zu klammern, dieser rätselhafte Protagonist. Jede Lebensgeschichte entpuppt sich zugleich wieder als unsichere Behauptung, jedes Vorrücken zu einer neuen Episode und Begegnungen spült wieder eine neue Identität nach oben, eine neue Biographie, die Julius wie ein Kartenhaus immer höher und höher baut.

Lüge und Alltag

Identität, das setzt schon qua Begriff gerne die Fantasie einer Gleichförmigkeit voraus. Das meint: eine Deckungsgleichheit, die ein verlässliches Bild nach außen präsentiert, das sich aber in Wirklichkeit und teils unbewusst immer wieder neu zusammensetzt und verwandelt. Was „Axiom“ so herrlich irritierend vorführt, ist eine schonungslose Darstellung dessen. Der Anstrengungen, die nötig sind, solche Bilder für das Umfeld dauernd zu kreieren, zu wählen, wie man sich wo für wen präsentiert und in Szene setzt.

Und es ist zugleich die Gegenbewegung, die Jönssons Film vorführt. Denn man hat es hier eben nicht mit jemandem zu tun, der versuchen würde, die Bruchstellen und Unebenheiten dieser zyklischen Konstruktion und Verwandlung zu vertuschen, sondern sie vielmehr ausnutzt und Vertrauen missbraucht. In Form der Lüge, des offensiven und schamlosen Vorspielens falscher Tatsachen. Ansonsten hätte man es mit einem langweiligen Film zu tun! Dass Julius damit allzu gegenwärtige Aufstiegsversprechen, Marktkonventionen und menschliche Anpassungen an ihr System widerspiegelt, ist nur eine interessante Ebene dieses clever konstruierten Filmexperiments.

Der Soziologe Erving Goffman hatte in den 1950ern in seinem berühmten Text „Wir alle spielen Theater“ die Theatralitäten in unserem alltäglichen Umgang nachgezeichnet. Goffman legte damit ein Gesellschaftsmodell vor, das ohne Begriffe von Spiel, von Inszenierung, Rolle und Darstellung überhaupt nicht denkbar ist. Das bedeutet bei ihm aber auch: Nicht nur andere von der eigenen Rolle, sondern auch sich selbst von ihr zu überzeugen. Von der Maske als unser „wahreres Selbst“, wie es Goffmann beschrieb. Auch bei ihm ging es dabei schon um die Möglichkeit der Lüge, die eine Person, also eine Persona, eine Maske, zusammenfallen lässt, sie der gesellschaftlichen Ächtung preisgibt, ist sie erst einmal überführt. Vor allem dann, wenn es darum geht, sich mittels erfundener Informationen einen höheren sozialen Status zu erschleichen – wie es der Protagonist von „Axiom“ unternimmt.

Gegen die Authentizität

Nur ist den meisten längst ein Bewusstsein für das Prozesshafte und Unabgeschlossene, vielleicht auch (Be)Trügerische von Identitätsbildung, letztlich von Subjekt an sich abhanden gekommen. Heute, da Authentizität zum lukrativen Schlagwort von Netzkultur und Werbeindustrie der digitalisierten Welt geraten ist. Oder im Fernsehen Programme füllt. Ganze Reality-TV-Staffeln fechten darum, wer sich authentisch gibt. Wer zeigt sein vermeintlich wahres Ich, wer entpuppt sich als Faker? Nur selten bröckelt der Authentizitätswahn. Wenn etwa eine öffentliche Person wie Fynn Kliemann plötzlich in ihren diversen Fassaden transparent wird. Dann sitzt der Schock tief, bevor man sich schnell wieder auf das Eigene besinnt, sich distanziert.

Es braucht hin und wieder einen Film wie „Axiom“, um diesem gestörten Fremd- und Selbstverständnis als Korrektiv entgegenzutreten. Oder zumindest als Erschütterung, die das Unterhaltsame, Beschwingte in ihrer Zuspitzung keinesfalls ausschließt. Urkomisch ist dieser Film, hat man seine Mechanismen erst einmal durchschaut, und dann wieder melancholisch, verstörend, grotesk. Weil er das Spannungsverhältnis zwischen seiner Münchhausenfigur und dem vermeintlich „normalen“ Umfeld niemals auflöst.

Um die Mär der echten, ursprünglichen Identität zu durchkreuzen, muss er zugleich auf eine andere Form von Schauspiel schielen. Hauptdarsteller Moritz von Treuenfels kommt dem bereits recht nahe, weil er wunderbar offen mit dem Unzuverlässigen agiert. Man ist sich ja nicht einmal sicher, ob man Mitleid mit ihm haben soll, ob man sich mit ihm amüsieren oder ihn abgrundtief hassen soll, ob er überhaupt geistig zurechnungsfähig ist. Auch diese Frage eröffnet Jönssons Film, in dem die Trennung zwischen dem Betrüger und den Betrogenen, den Cleveren und den Unwissenden fortwährend durchlässig erscheint.

Unzuverlässiges Kino

Vielleicht muss man diesen Julius als närrischen Helden feiern, weil er als einziger das soziale Rollenspiel verstanden hat. Doch auch er gerät ins Zweifeln, der seine Persona von jetzt auf gleich zu verändern versteht und trotz seiner Zersplitterung als ganzer Mensch erscheint. Das Göttliche spielt da eine Rolle, Wundererzählungen, Fragen nach einer höheren Macht, die Julius in Gesprächen mit seinem neuen Arbeitskollegen erforscht. „Axiom“ findet keinen Abschluss dafür. Wie sollte das auch gehen?

Hier scheinen doch selbst höhere, andere Mächte am Werk zu sein, die keine konventionelle, keine lineare Erzählform, womöglich noch mit einer charakterlichen Entwicklung und Wandlung zulassen. Der Titel „Axiom“ knallt irgendwann in der Mitte der Laufzeit ins Bild. War bislang alles nur ein langer Prolog? Plötzlich wähnt man sich im falschen Film, die bislang ausgelegten Fäden sind längst wieder durchtrennt. „Axiom“ lässt sich kaum hinter die Fassade schauen. Ein Glück! Ähnlich verhält es sich mit dem Menschen. Das Kino von Jöns Jönsson erlaubt eine solche Fremdheitserfahrung.  

„Axiom“ läuft ab dem 30. Juni 2022 in den deutschen Kinos. Seine Weltpremiere feierte der Film in der Encounters-Sektion der 72. Berlinale.

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Bildquelle:

  • axiom: Martin Menke/ Bon Voyage Films/ Filmperlen
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