Der Zulauf zum Chaos Communication Congress wird jedes Jahr größer. Tausende kommen in Leipzig zum kreativen Umgang mit Technik zusammen. Das viertägige Treffen stellt die Entwicklung der digitalen Gesellschaft auf einen kritischen Prüfstand.
Löten und programmieren, blinken und diskutieren: Die rund 16 000 Teilnehmer auf dem Kongress des Chaos Computer Clubs (CCC) haben nach Weihnachten gut zu tun. In mehr als 160 Vorträgen und Workshops allein an den fünf Hauptorten des Leipziger Messegeländes wollen sie mal in kleinste Details von Computerplatinen eintauchen, mal nichts weniger als die Welt retten. Der zum 35. Mal stattfindende Chaos Communication Congress, kurz 35c3, gilt als weltgrößtes Hacker-Treffen.
Die Szene ist in die Jahre gekommen und wird sich ihrer eigenen Geschichte bewusst – auch zur Vergewisserung der eigenen Stärken. Das diesjährige Motto lautet „refreshing memories“: Damit will der 35c3 Erinnerungen auffrischen und „in beängstigenden Zeiten von Wissenschafts- und Wahrheitsfeindlichkeit sowie Populismus eine Kultur der Weltoffenheit und Fakten zelebrieren“, erklärt Linus Neumann, Sprecher des Chaos Computer Clubs.
Erinnerung kann aber auch politisch instrumentalisiert und verzerrt werden. „Wir beobachten weltweit politische Bewegungen, die über Erinnerungen argumentieren“, sagt Neumann. Als Beispiel nennt er die „Make America Great Again“-Kampagne von US-Präsident Donald Trump. Solche „rückwärtsgewandten Strömungen“ glorifizierten eine Vergangenheit, die es so nicht gegeben habe. „Wir denken, dass es wichtig ist, mit einer positiven Sicht nach vorne zu blicken.“
Das versucht gleich der Auftaktvortrag des britischen Arbeitswissenschaftlers Guy Standing, der den Disruptionen, also tiefgreifenden Umbrüchen, durch digitale und ökonomische Veränderungen nachgeht. Standing fragt, wie eine ausgeglichenere Marktwirtschaft mit weniger Unsicherheit gestaltet werden kann – auch um populistische und rechtsextreme Tendenzen einzudämmen.
Die Bandbreite der Themen reicht vom digitalen Zuhause (Smart Home) über das Eindringen ins iPhone-Betriebssystem iOS und die künstlerischen Fähigkeiten von Robotern bis zum OpenSchufa-Projekt, das den Algorithmus hinter den Daten der Bonitätsauskunft Schufa knacken will. CCC-Sprecher Frank Rieger führt in die Hacker-Ethik ein, und der Blogger Markus Beckedahl von netzpolitik.org erkundet „die Höhen und Tiefen der deutschen und europäischen Netzpolitik“. Natürlich geht es auch immer wieder um das Dauerthema Überwachung, etwa bei den neuen Polizeigesetzen in mehreren Bundesländern, in der Überprüfung der elektronischen Patientenakte oder zur Blockade des Kommunikationsdienstes Telegram in Russland.
Ein spannendes Thema zur IT-Sicherheit ist in diesem Jahr die Venenerkennung. Im Gegensatz etwa zum Fingerabdruck sei diese „eine der letzten Bastionen biometrischer Systeme, die sich bisher der Eroberung durch Hacker widersetzt hat“, heißt es im Programm. „Dabei ist sie ein lohnendes Ziel, schützt sie doch Bankautomaten und Hochsicherheitsbereiche“, heißt es im Programm. Zwei Hacker wollen nun zeigen, „mit welch geringem Aufwand man an die „versteckten“ Venenbilder gelangen kann“.
Der 35. Chaos Communication Congress (35c3) ist erneut gewachsen – rund 1000 Besucher mehr als im vergangenen Jahr und längst ausverkauft. Damit auch Erstbesucher einen einfachen Zugang zur auf den ersten Blick ziemlich verwirrenden Hackerwelt bekommen, gibt es erstmals sogenannte „foundation talks“, die sich an Einsteiger richten, bei denen aber auch erfahrene Besucher ihr Wissen wieder auffrischen können.
Zahllose Initiativen und Projekte tummeln sich zwischen den Blöcken des offiziellen Programms. „Wir haben uns das Motto vom letzten Kongress zu Herzen genommen: Tuwat!“, sagt Lena Simon, die sich in der Hackerinnen-Gruppe der Haecksen engagiert. Dazu gehören auf dem Kongressgelände verteilte „Memorials“, die Frauen gewidmet sind, die zur Entwicklung der Computertechnik beigetragen haben. Die Aktion richtet sich gegen Androzentrismus, also eine Sichtweise, die das männliche Denken als alleinigen Maßstab setzt. „Da wird dann von vornherein angenommen, dass Frauen nicht viel Ahnung von Technik haben“, erklärt Simon. „Das kommt oft scheinbar wohlmeinend daher, etwa wenn mir jemand erklären will, wo auf der Tastatur die Escape-Taste liegt.“[Jenny Tobien und Peter Zschunke]
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