Auch frühere Generationen äußerten sich in der Jugend politisch und machten Fehler. Doch im Unterschied zu heute wurden diese nicht im Internet gespeichert. Was bedeutet die Auffindbarkeit von Jugendsünden für heutige junge Erwachsene?
Wer in der Öffentlichkeit steht, den holen frühere Fehler irgendwann ein: Tweets, von denen man sich heute wünscht, sie nie abgeschickt zu haben, Kommentare, die man sich besser gespart hätte, aber doch bei Facebook gepostet hat. Früher oder später kommt jemand auf die Idee, mal nachzuschauen, ob bei Posts von Menschen in der Öffentlichkeit nicht auch etwas Dummes dabei war.
So wie es Sarah-Lee Heinrich ergangen ist, die am Samstag vor einer Woche beim Bundeskongress der Grünen Jugend zur Co-Sprecherin der Nachwuchsorganisation gewählt worden war. Teils mehrere Jahre alte Äußerungen von ihr lösten eine heftige Online-Kontroverse aus. Dabei ging es unter anderem um einen Tweet von ihrem Konto, in dem sie mit „Heil“ auf ein Hakenkreuz reagierte. Heinrich erklärte, sie erinnere sich nicht an den Tweet, entschuldigte sich aber dafür.
Das Internet vergisst nicht
In einem Interview von „Zeit Online“ sagte Heinrich nun: „Das war nicht in Ordnung, genauso wie alle anderen diskriminierenden Aussagen. Egal wie ironisch ich mit 14 vielleicht sein wollte.“ Trotzdem hat die Internet-Gemeinde ihr das Ganze um die Ohren gehauen. Im TV warf Literaturkritikerin Elke Heidenreich Heinrich bei „Markus Lanz“ vor, nicht mit Sprache umgehen zu können.
Die heute 20-jährige Heinrich hatte sich am vorigen Montag mit Verweis auf Morddrohungen zunächst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es habe einen Shitstorm gegen sie gegeben, der von rechten Netzwerken ausgegangen sei. Über alte Äußerungen von ihr, die sich als Gewaltandrohung oder -fantasie verstehen lassen, sagte Heinrich, sie habe als 13- oder 14-Jährige den Ton und Humor der damaligen Youtuber- und Battlerap-Szene für normal gehalten. Das sei es jedoch nicht, weswegen sie die Tweets schon vor vielen Jahren gelöscht habe.
Doch das Internet vergisst nicht. Der Aufruf, vorsichtig mit geposteten Inhalten in sozialen Medien zu sein, sei nicht neu, meint Kerstin Heinemann vom JFF – Institut für Medienpädagogik. Die Pädagogik rät schon lange, mit Blick auf künftige Bewerbungen besser keine Partybilder zu posten. Soziale Medien seien teilöffentliche Räume. Jugendliche seien sich dessen auch durchaus bewusst.
Fall Sarah-Lee Heinrich jüngstes Beispiel
Doch stünden Jugendliche und junge Erwachsene von heute durch soziale Medien unter einem größeren Druck als frühere Generationen, sagt Heinemann, die sich unter anderem mit digitalen Medien und der Prävention religiös motivierter Extremismen beschäftigt. Sowohl was die Frage von Schönheitsidealen angeht als auch politische Äußerungen – Debatten würden über Medien wie Twitter deutlich härter geführt.
Extremistische Strömungen nutzten dies gezielt aus, um Debatten in eine bestimmte Richtung zu treiben und zu manipulieren, sagt Heinemann. Harte Diskussionen, Richtungsstreitigkeiten, Identitätskultur auf Twitter, und alles in hoher Geschwindigkeit – bei Jugendlichen sei das Bewusstsein dafür noch nicht so ausgebildet.
Ähnlich sieht es Christian Scherg. Er beschäftigt sich mit Krisenkommunikation und gilt als Internet- und Reputationsexperte. „Was wir früher an Klowände geschrieben haben, schreiben Jugendliche heute ins Internet“, sagt er. Selbst wenn Posts vom eigenen Account gelöscht würden, habe jeder andere Internetnutzer die Möglichkeit, sie per Screenshot zu archivieren und auch als Waffe zu verwenden. Kinder und Jugendliche, die heute aufwachsen, hätten häufig eine „lückenlose digitale Biografie“, wenn sie nicht bedacht haben, wo und wie sie etwas veröffentlichen.
Kinder und Jugendliche haben heutzutage lückenlose digitale Biografien
Ein Problem dabei, so Scherg: „Der Zeitgeist ändert sich.“ Was heute als völlig okay zu posten gilt, mag in 5 oder 15 Jahren ganz anders aufgenommen werden. Alte Posts könne man aus dem Zusammenhang reißen und gegen jemanden verwenden. Das gelte es schon bei der Veröffentlichung zu berücksichtigen.
Wie geht man aber mit einem Shitstorm konkret um, wie ihn Heinrich nach eigener Aussage erlebte? „Abschalten, abschirmen, nicht lesen“, sagt Scherg. Gefühlt stehe man in solchen Momenten ganz alleine da, weshalb es wichtig sei, von anderen abgeschirmt und geschützt zu werden. Gleichzeitig empfiehlt er, den entsprechenden Kanal nicht zu schließen. Dort habe man die Sache im Griff, könne Beiträge löschen, melden, kommentieren und gegebenenfalls auch überlegen, gegen welche Beiträge man juristisch vorgehen könne.
Doch ist eine konstruktive Diskussionskultur in sozialen Medien überhaupt möglich? „Es gibt auch gehaltvolle Diskussionen auf Twitter, wenn Diskussionspartner das auch wollen“, sagt Heinemann. Und die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese zu ermöglichen, bleibe. „Social Media wird nicht weggehen.“
„Abschalten, abschirmen, nicht lesen!“
Sie fordert vermehrte Medienpädagogik, die – vereinfacht gesagt – nicht erklärt, wie ein Handy bedient wird, sondern Kenntnisse über mediale Strukturen vermittelt und sich beispielsweise mit der Frage beschäftigt, wie eine kommunikative Kompetenz ausgebildet wird. Diese sei auch beim Stammtisch oder auf dem Marktplatz nötig, und der Unterschied zu Debatten im Internet gar nicht so groß. „Wir brauchen Vorbilder, die in der Sache hart diskutieren, aber einen fairen Debattenton anschlagen.“ Dies sei nicht allein Aufgabe von Jugendlichen.
Auch den Journalismus sieht Heinemann in der Pflicht, ethisch auf derartige Diskussionen zu blicken: „Welchen Jugendsünden geben wir Raum und Spin? Sind das Dinge, die es wert sind, ins Licht der Öffentlichkeit zu kommen? Von wem wird das ausgelöst?“ Diese Fragen müssten sich auch Journalistinnen und Journalisten stellen.
Vorbilder im Internet? Fehlanzeige!
Beide sehen in der Weiterentwicklung der Debattenkultur eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: „Wir müssen unsere Meinung ändern können“, sagt Scherg. Insbesondere für Kinder und Jugendliche gehöre es zur Persönlichkeits- und Meinungsfindung dazu, auch mal die falsche Meinung gehabt zu haben.
„Wo ist das in den Lehrplänen? Wo ist Raum für Identitätsarbeit?“, fragt auch Heinemann. Fälle wie der von Sarah-Lee Heinrich seien für die einzelne Person tragisch. Man könnte sie jedoch zum Anlass nehmen, dies explizit zum Thema zu machen – was Heinrich übrigens selbst vorgeschlagen hat. Dies wäre die beste Form der Prävention, so Heinemann.
[Antje Müller]
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