Deutschlands erster Satellit hob vor 50 Jahren ab

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Bild: © jim - Fotolia.com
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1969 war das Jahr der Mondlandung. Nur wenige Monate später schrieb auch die deutsche Raumfahrt Geschichte. Eine mit Zufällen und Hochs und Tiefs, wie sie heute wohl kaum noch vorstellbar wäre.

Einen richtigen Plan hatte Hubertus Wanke nicht. „Wir wussten nicht, was wir zu tun hatten“, erinnert er sich an die Gruppe, die vor 50 Jahren den ersten deutschen Satelliten ins All bringen sollte. Wankes Aufgabe war damals die Datenkontrolle im eigens errichteten Deutschen Raumfahrtkontrollzentrum in Weßling bei München. Der Zufall hatte ihn zu dem Job gebracht, so wie der Zufall auch entscheidende Momente der historischen Mission „Azur“ bestimmte.

Wanke war 25, hatte gerade sein Physik-Studium abgeschlossen und saß beim Zahnarzt, erzählt er. Der fragte ihn, was er denn nun beruflich machen wolle – und empfahl, mal nach Oberpfaffenhofen zu fahren, einem Ortsteil von Weßling. Da mache sein Schwager „irgendwas mit Satelliten“. Gesagt, getan stolperte der junge Wanke gewissermaßen in ein Vorstellungsgespräch, das in dem Hinweis gipfelte: Wenn er den Job wolle, müsse er spontan in die USA fliegen. „Das war damals so unfassbar wie ein Flug zum Mond“, sagt Wanke heute. Es war Frühjahr 1968, gut ein Jahr vor der Mondlandung von Neil Armstrong und Co.

Auch für Wanke wurde Unvorstellbares Realität: In einem Crashkurs bei der US-Raumfahrtbehörde Nasa lernte er, was er für die künftigen Aufgaben wissen sollte. „Die Amerikaner waren wirklich sehr nett, haben uns behandelt wie Söhne“, erinnert er sich. Und für ihn war wirklich alles neu: „Nichts davon hatte ich im Studium gelernt.“

Es war die Zeit des Kalten Krieges, aber auch immensen technologischen Fortschritts. Die Sowjetunion, die USA, Großbritannien, Italien, Frankreich, Kanada, Japan und Australien hatten schon Satelliten im Weltraum. 1964 schickte das Bundesforschungsministerium einen Brief an die Nasa mit dem Vorschlag für ein kooperatives Programm, wie aus Unterlagen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) hervorgeht. Ende 1967 begann die Fabrikation der Prototypen für „Azur“.

„Für die USA war die wirtschaftlich starke Bundesrepublik ein hoffnungsvoller Partner – und Deutschland hoffte darauf, die technologischen Fähigkeiten der deutschen Industrie auszubauen und Know-how für das komplexe Management von Weltraummissionen zu gewinnen“, beschreibt das DLR die Zusammenarbeit. Jeder Partner trug seine Kosten: die Bundesrepublik 80 Millionen D-Mark für die Entwicklung des Satelliten und des Bodensystems, die USA die für die Trägerrakete, den Start und die Bahnverfolgung seitens der Nasa-Bodenstationen. Da die deutschen Firmen jedoch kaum vorbereitet waren, wurden fast alle elektronischen Bauteile in den USA beschafft.

Rund 70 Kilogramm war der Forschungssatellit laut DLR schwer, 1,23 Meter hoch und hatte einen Durchmesser von bis zu 76 Zentimetern. „Weil die Solarpanele so schön bläulich schimmerten, bekam er den Namen „Azur“‚, sagt Wanke. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Extraterrestrische Physik und mehrerer Hochschulen wollten mit ihm unter anderem die kosmische Strahlung erforschen und ihre Wechselwirkung mit der Magnetosphäre, Polarlichter sowie Sonnenwinde bei Sonneneruptionen. Mehr als hundert Experimente wurden vorgeschlagen, sieben davon schafften es in die Mission.

Los gehen sollte es in der Nacht zum 7. November 1969. Eine Rakete vom Typ Scout-B sollte „Azur“ vom kalifornischen Vandenberg ins Weltall bringen. In Oberpfaffenhofen war eine Live-Übertragung für geladene Gäste und die Presse geplant, inklusive Vorträgen und Buffet.

Doch ein Kabelbrand am Check-out-Gerät des Satelliten durchkreuzte die Pläne. Der Countdown wurde abgebrochen. Und der Start um 24 Stunden verschoben. „Zum Trost für die Gäste wurde das Buffet trotzdem freigegeben“, heißt es in der DLR-Chronik.

So kam es, dass der 8. November 1969 der Tag für die Geschichtsbücher wurde. Um 2.52 Uhr Mitteleuropäischer Zeit startete die Trägerrakete mit „Azur“ an Bord. „Die Basis für Raumfahrt „Made in Germany“‚, wie Walther Pelzer, DLR-Vorstand für das Raumfahrtmanagement, heute sagt. Vom „‚Gesellenstück“ der deutschen Weltraumforschung“ ist beim DLR die Rede. Doch wieder lief nicht alles nach Plan.

Eigentlich sollte eine Nasa-Bodenstation in Alaska den ersten Kontakt zu „Azur“ aufnehmen und die Einschaltprozeduren durchführen. Doch aus technischen Gründen scheiterte das. Auch bei der nächsten Station in England funktionierte es nicht. So rückte plötzlich Bayern in den Fokus: Die Zentralstation des Deutschen Bodensystems in Weilheim in Oberbayern übernahm nach einer Eilentscheidung der Projektleiter die Kontaktaufnahme mit „Azur“. Die empfangenen Daten wurden nach Oberpfaffenhofen übertragen. „Das hatte in der Testphase nie so gut geklappt“, erinnert sich Wanke. „Aber da hat sich der Bildschirm schlagartig mit grünen Daten gefüllt. Das war unglaublich.“

Allerdings war laut DLR gar nicht vorgesehen, dass Rohdaten von Bayern aus an die Nasa gehen. Die Ingenieure fanden eine Lösung: Sie zogen den Lochstreifen aus dem Zentralrechner vom Rechnerraum über den Gang zum Kontrollzentrum, um die Daten per Fernschreiber an die Nasa zu übertragen. Den Applaus dort konnten die Deutschen über Kopfhörer verfolgen. „Das Backup wurde also zum First“, sagt Wanke, nicht ohne ein bisschen Stolz. „Das ist die große Geschichte, an die sich heute hier noch alle gerne erinnern.“

Dass Bayern überhaupt eine solche Rolle spielen konnte, liegt nach seiner Darstellung an Franz Josef Strauß. Der CSU-Politiker war Anfang der 1960er Jahre Bundesverteidigungsminister. „Es war damals niemand für Raumfahrt zuständig in der Bundesregierung“, sagt Wanke. „Der einzige, der sich für Hochtechnologie interessiert hat, war Strauß. Und er wollte Industrie nach Bayern holen.“

Heutzutage gibt es einen Raumfahrtkoordinator – und große Summen werden in die Branche gesteckt. 285 Millionen Euro hat die Bundesregierung 2019 für das Nationale Weltraumprogramm reserviert. Hinzu kommen dem Wirtschaftsministerium zufolge 857 Millionen Euro als Beitrag für die Raumfahrtagentur Esa sowie eine gute halbe Milliarde für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Den Gesamtumsatz gibt der Branchenverband BDLI für 2018 mit 2,9 Milliarden Euro an. Das entspricht nach Angaben des Dachverbandes BDI gut einem Prozent des globalen Raumfahrt-Umsatzes von 260 Milliarden Euro. Bis 2040 könnte sich der Markt Experten zufolge verzehnfachen.

Der Computer, der die erste Bahn von „Azur“ berechnete, habe eine ganze Nacht durchgerödelt, erzählt Wanke. Jedes Smartphone heute ist schneller. «Azur» kreiste nun in einer Bahnhöhe von knapp 400 bis mehr als 3.000 Kilometern um die Erde. Er hatte allerdings einen Hang zum Eigenleben, reagierte auf Störsignale, so dass Betriebszustand und Messprogramme umgeschaltet wurden. Das konnten die Techniker in Oberpfaffenhofen zwar beheben. Während des 379. Umlaufs aber, fünf Wochen nach dem Start, fiel das Magnetband-Speichergerät aus. Von diesem Moment an konnten Messwerte und Kontrolldaten nur noch in Echtzeit empfangen werden. Dafür musste in Windeseile das Netz an Bodenstationen erweitert werden; eine kam etwa in Brasilien hinzu. Der gelieferte Datenstrom schrumpfte auf rund 80 Prozent der erhofften Menge.

Am 29. Juni 1970 brach die Verbindung zu „Azur“ dann aus ungeklärten Gründen ganz ab, obwohl der Satellit eine erwartete Lebenszeit von mindestens einem Jahr haben sollte. Dennoch werteten Politik, Forschung und Industrie die Durchführung des ersten deutschen Langzeitunternehmens im All laut DLR als großen Erfolg.

173 Satellitenmissionen mit deutscher Beteiligung folgten seither laut Bundeswirtschaftsministerium. Der Luft- und Raumfahrtkoordinator der Bundesregierung, Thomas Jarzombek, verweist darauf, welche Rolle die Raumfahrt für den Alltag hat: „Jeden Tag profitieren die Menschen in Deutschland davon – häufig ohne es zu merken. Ohne Satelliten hätten wir keine funktionierenden Navigationssysteme mehr, keine Fernsehübertragungen, Telefon- und Datennetze wären überlastet, die Energieversorgung massiv gestört und nicht zuletzt wären die Wetterprognosen miserabel, auf dem Niveau von Bauernregeln.“ So seien Satelliten zu kritischer, schützenswerter Infrastruktur geworden.

Ein Problem dabei: Weltraumschrott. Das Thema habe große Brisanz, so Jarzombek. „Wir müssen uns dafür einsetzen, zu einer internationalen Regelung zu kommen, die den Weltraumschrott begrenzt, damit wir auch künftig noch Satelliten starten und von ihnen profitieren können.“ DLR-Vorstand Pelzer fordert ebenso, sich stärker dem Umgang mit und der Entsorgung von ausgedienten Satelliten zu widmen. Auch „Azur“ schwirrt noch inaktiv durchs All. Seine Umlaufbahn wird nach wie vor erfasst. Er ist inzwischen bei weit mehr als 36.000 Erdumrundungen.

Für Wanke war „Azur“ der Beginn einer Karriere. Er stieg später bis zum stellvertretenden Leiter des Kontrollzentrums in Oberpfaffenhofen auf und war federführend beim Start des Satellitennavigationssystems Galileo. Dennoch war Azur prägend:

„So etwas vergisst man nie.“[Marco Krefting]

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