Mit eiem Alter von sage und schreibe 125 Jahren ist die Schallplatte das älteste noch verwendete Tonträgermedium. Doch obwohl die Platte in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung verloren hat, könnte die Erfindung von Emil Berliner als einziges analoges Medium im digitalen Zeitalter überleben.
David Bowie, U2 oder Herbert Grönemeyer – im Berliner Meistersaal am Potsdamer Platz ist schon so manche berühmte Platte entstanden. Heute spielt hier noch immer die Musik, nur die Aufnahmetechnik hat sich gewandelt. Fast alles läuft digital. Doch auch Schallplatten werden von Liebhabern noch immer geschätzt und im Meistersaal auch wieder aufgenommen. Um die Zukunft der heutigen Vinylscheiben macht sich Tonmeister Rainer Maillard in Berlin wenig Sorgen. „Ich wette, dass es die Platte noch in 100 Jahren gibt“, sagt er. „Sie wird der letzte analoge Tonträger sein.“
Die Technik dafür hat der Erfinder Emil Berliner vor 125 Jahren als Patent angemeldet – damals noch für Schallplatten aus Zinkblech und ein Grammophon zum Abspielen.
Sein Name ist fast vergessen, doch in Berlin lebt er weiter. Schräg unter dem Meistersaal mit der hohen hölzernen Kassettendecke liegen seit 2010 die modernen „Emil Berliner Studios“ für akustische Musik. Tonmeister Maillard hat sie mitgegründet – rund 300 Quadratmeter Hightech im Altbau, ruhiges Erdgeschoss. Seit Kurzem produzieren sie hier auch wieder „Direct to Disc“-Schallplatten – eine Art Extremform in einer digitalen Welt.
Der Firmenname ist sehr bewusst gewählt. „Das ist schon ein bisschen so, als ob man sich nach seinem Großvater benennt“, sagt Maillard schmunzelnd. „Aber wir trauen uns ja auch noch, nach seiner Idee zu produzieren. Und die war genial.“ Eine Adresse mit Tradition ist das Haus auch, nicht nur für Kammermusik. Im Meistersaal las in den wilden 20er Jahren Kurt Tucholsky. George Grosz und John Heartfield gingen ein und aus.
Für Plattenaufnahmen spielen Musiker heute wieder im ehrwürdigen Saal. Mikrofonkabel für analoge Aufnahmen führen direkt ins Emil-Berliner-Tonstudio. Dort stehen voll funktionstüchtige Mischpulte aus den 1950er Jahren neben modernen Geräten. Eine Platten-Schneideanlage aus den 1990ern wird gehegt und gepflegt wie ein teurer Oldtimer – denn gebaut wird sie heute nicht mehr.
Den Urahn dieser Technik, eines der ersten Grammophone, hütet das Studio als Museumsstück unter Glas. Es sieht aus wie ein Spielzeug. Eine kleine Handkurbel, ein winziger Leder-Keilriemen, ein Tonarm, ein Trichter aus Pappmaché. Die Platte ist nicht größer als eine heutige CD. Was war damals zu hören? „Einfach alles, was maximal fünf Minuten dauerte“, erläutert Maillard. Ein Walzer oder ein Lied. Es war noch nicht die Zeit für Beethoven-Symphonien im Wohnzimmer.
Doch aus dem Zinkblech für die Plattenproduktion wurde Hartgummi, aus Hartgummi schließlich um die Jahrhundertwende Schellack. Diese harzige Substanz brachte den endgültigen Durchbruch für die Schallplatte. Sie machte Opernsänger wie Enrico Caruso weltberühmt. Das neue Medium setzte auch neue Trends. Argentinische Musiker brachten den jungen Tango nach Paris. Über Schallplatten breitete sich das Tango-Fieber in Europa aus.
Die frühen Schallplatten waren teuer, knisterten und kratzten, doch zusammen mit dem Grammophon boten sie frühe mechanische Unterhaltung daheim. Musik ohne lebendige Musiker – das hatte es zuvor nur aus den Musiktruhen von Kneipen, von Drehorgelspielern auf der Straße oder aus filigranen Spieluhren gegeben. Das Radio war noch nicht erfunden.
Heute sind Platten nur noch ein Nischenprodukt der Musikindustrie – das Rückgrat bleibt die CD. Und Downloads aus dem Internet holen immer weiter auf. Doch kann man sich in einen iTunes-Ordner verlieben wie in eine Schallplatte mit markantem Cover? Anscheinend nicht. Denn die kleine Platten-Nische wächst seit Jahren wieder.
„Direct to Disc“-Aufnahmen sind für Musiker der digitalen Welt heute eine Herausforderung. Die Musizierenden müssen ihre Stücke fehlerfrei durchspielen. Denn Patzer können bei Plattenaufnahmen nicht herausgeschnitten werden. Das sei der Grund, warum Musiker und Hörer diese Aufnahmen „honest“ nennen, sagt Tonmeister Maillard: ehrlich. „Musiker müssen hier zeigen, was sie können. Und nicht, was die Software oder die Schnitttechnik kann“, ergänzt er.
Führen Digitalaufnahmen nicht zwangsläufig zu einem Perfektionszwang? Maillard, Professor für Musikübertragung, schüttelt den Kopf. „Es ist die Frage, was Sie wollen“, sagt er. Der eine schätze handgeschriebene Briefe mit Füller, der andere E-Mails. Bei Musikaufnahmen sei das nicht anders.
„Mit Ästhetik hat das für mich nichts zu tun“, sagt Maillard. Auch seinen Beruf sieht er eher pragmatisch. „Ich vermittele wie ein Übersetzer zwischen der Welt der Musik und den Zuhörern“, erläutert er. Sein Instrument? „Man muss keinen Roman schreiben können, um ein guter Übersetzer zu sein.“
Die Emil Berliner Studios leben heute von der Klassik – überwiegend von digitalen Aufnahmen. Große Namen wie Anna Netrebko oder Lang Lang sind dabei. Tonmeister reisen ihnen um die ganze Welt hinterher. Die Deutsche Grammophon zähle zu den besten Kunden, betont Geschäftsführer Evert Menting. Emil Berliner spiele bei der Klassik in der ersten Reihe mit. Auch Jazz oder Filmmusik – zuletzt für den Kinofilm „Holy Motors“ – sind willkommen. Neulich war sogar eine Rockband zu Gast. Der Meistersaal hat nur eine natürliche Grenze: Mehr als 50 Musiker passen nicht hinein.
Über Jahrzehnte stand der Altbau, in den die Emil Berliner Studios eingezogen sind, direkt an der Berliner Mauer. Heute liegt er im Herzen der Stadt. Seit den 1970er Jahren produzieren hier schon die Hansa-Tonstudios, die nicht nur Bowie und U2, sondern auch Mireille Mathieu, Marianne Rosenberg und Lou Begas „Mambo No5“ aufgenommen haben. Das klingt nach guter Nachbarschaft. [Ulrike von Leszczynski/ps]