Eine Armee von Kleinanlegern, die sich über Online-Dienste wie Reddit organisiert, greift das traditionelle Finanzsystem an. Möglich gemacht haben dies Discount-Broker wie Robinhood, die in den Turbulenzen jetzt selbst vor großen Herausforderungen stehen.
Der Aktienkurs des Computerspielhändlers Gamestop dümpelte Anfang Januar noch knapp unter der 18-Dollar-Marke. Doch was dann geschah, haben auch erfahrene Finanzprofis bislang nicht erlebt: In den vergangenen zwei Wochen stieg der Gamestop-Kurs um insgesamt etwa 2000 Prozent. Angetrieben von Hobby-Investoren auf der Onlineplattform Reddit, die sich im Forum „WallStreetBets“ organisierten, wurde der Kurs in scheinbar unendliche Höhen getrieben. Mit konzertierten Käufen zwangen die Kleinanleger Hedgefonds, ihre Wetten auf einen Kursverfall der Aktien aufzulösen. Was dann die Aktien in die Höhe trieb und den Fonds etliche Milliarden kostete.
Scott Galloway, Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der New York University, wählt einen drastischen Vergleich: Die neuen Online-Handelsplattformen wie der bei den Reddit-Usern mehrheitlich genutzte Online-Broker Robinhood seien die neuesten Crack-Dealer, denen es darum gehe, bei den Kunden ständig die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin auszulösen. Sie setzten alles daran, um mit Game-Elementen ständig neue Deals anzuschieben: „Konfetti fällt, um Transaktionen zu feiern. Die Broker-App sieht aus wie ein buntes Interface von Candy Crush.“
Auch bei der Spekulation mit der Gamestop-Aktie sah zunächst alles nach einer tollen Party aus: Doch als am Donnerstag sogar kurzzeitig bis zu 500 Dollar für eine Gamestop-Aktie geboten wurden, zog Robinhood die Reißleine und blockierte weitere Käufe in der App. Der Kurs brach zeitweise bis auf 126 Dollar ein und schloss letztlich bei 194 Dollar. Der Handel mit den Papieren war bereits an den Vortagen zeitweise erheblich gestört, weil nicht nur Robinhood, sondern auch etliche andere Online-Broker von E-Trade und TD Ameritrade bis hin zu den Plattformen der großen Vermögensverwalter Charles Schwab und Fidelity den großen Andrang nicht mehr bewältigen konnten.
Deutscher Online-Broker zieht nach
Auch der deutsche Online-Broker Trade Republic stellte am Donnerstagabend ein Stopp-Schild auf. Die Aktien Gamestop, der Kinokette AMC, von BlackBerry und Nokia sowie der Firmen Express Inc. und Bed Bath & Beyond Inc. seien „anscheinend aktuell Gegenstand von heftigen, koordinierten Kursspekulationen“, schrieb der Berliner Neo-Broker an seine Kunden. „Wegen der damit verbundenen Risiken für Dich nehmen wir bis auf weiteres keine neuen Aufträge zum Kauf dieser Aktien an.“ Inzwischen hob Trade Republic das Kaufverbot wieder auf.
Robinhood hatte am Vorabend nach einem Sturm der Entrüstung von Anlegern angekündigt, die Handelsbeschränkungen für die heißgelaufenen Aktien von Gamestop und Co. wieder zu lockern. Am Freitag zog der Kurs des Computerspielhändlers daraufhin wieder an – im vorbörslichen US-Handel zeitweise um rund 100 Prozent. Er blieb aber vom Höchststand weit entfernt.
Gamestop selbst steckt eigentlich tief in der Krise und galt zwischenzeitlich schon als abgeschrieben. Das Filialgeschäft mit Videospielen hat ohnehin keine große Perspektive und leidet in der Pandemie zusätzlich. Dass die Hobby-Trader die Firma als „Meme Stock“ auswählten, war – bis der Hype nicht mehr zu stoppen war – von vielen als Witz empfunden worden.
Fall wird zum Politikum
In den USA hatte die Entscheidung von Robinhood, nur noch den Verkauf der Gamestop-Aktie zuzulassen, einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Am Donnerstag schaltete sich sogar die oberste US-Politik in den Konflikt ein. Der künftige Vorsitzende des Bankenausschusses im US-Senat, Sherrod Brown, kündigte eine Anhörung „zum aktuellen Zustand des Aktienmarkts“ an. Es sei an der Zeit für die Börsenaufsicht SEC und den Kongress dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft für alle funktioniere, nicht nur für die Wall Street. „Die Leute an der Wall Street scheren sich nur um die Regeln, wenn sie diejenigen sind, denen es wehtut“, hieß es in Browns Statement.
Noch größer war der Frust bei Anlegern, die sich durch Robinhoods Beschränkungen auf ihrer Gewinnstrecke ausgebremst sahen. „Die nehmen das Geld von den Armen und geben es den Reichen“, empörte sich beispielsweise Charlie Hancox von der Aktivisten-Plattform Inveez. Wie andere User warf er Robinhood-Chef Vlad Tenev vor, ihnen im Machtkampf mit den Hedgefonds in den Rücken gefallen zu sein.
Die professionellen Investoren hatten im Gegensatz zu dem Flashmob der Reddit-User auf fallende Kurse spekuliert. Diese „Shortseller“ verkaufen die entsprechende Aktie zuerst, obwohl sie sie noch gar nicht besitzen. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der „perfekte“, sinkende Kurs sich ergibt, wird dann das Papier eingekauft, um den Deal bedienen zu können. Solche Leerverkäufer setzen also darauf, sich bis zum Termin der Rückgabe billiger mit Papieren einzudecken und die Differenz dann als Gewinn einzustreichen.
Die Reddit-Community setzte aber auf steigende Kurse. So kam es zu einem regelrechten Kräftemessen mit den Hedgefonds, die dann durch den organisierten Massenkauf der Aktien und den damit verbundenen steigenden Kursen in große wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten und zum Teil Milliarden-Verluste abschreiben mussten.
Strategiewende der Hedgefonds
Citron Research, einer der Hedgefonds, der bei der Wette gegen Gamestop die Segel strich und seinen Einsatz fast komplett einbüßte, kündigte am Freitag eine große Strategiewende an. Nach 20 Jahren will Citron Research seine „Short Reports“ genannten Analysen einstellen, die Schwächen von Firmen aufzeigen sollen, gegen die der Fonds meist spekuliert. Sein Unternehmen wolle nicht länger zum Establishment gehören, es habe schließlich einst selbst als Außenseiter an der Wall Street begonnen, sagte Citron-Chef Andrew Left.
Tenev bestritt in einem Interview mit Bloomberg TV, dass sein Unternehmen von den Playern an der Wall Street unter Druck gesetzt wurde. Robinhood habe selbst nicht genügend freies Kapital gehabt, um die Käufe der heiß gehandelten Aktien mit den notwendigen Einlagen abzusichern. Nach einem Bericht der „New York Times“ musste Robinhood kurzfristig über eine Milliarde Dollar bei seinen Investoren auftreiben, um liquide zu bleiben. Der Kauf-Stopp war eine technische und betriebliche Entscheidung, beteuerte Tenev.
Mit dieser Antwort wollen sich die Betroffenen aber nicht zufrieden geben. Zwei frustrierte Robinhood-Kunden reichten Klagen gegen den Neo-Broker in New York und Chicago ein.
„Ein Schlachtfeld“
Nachdem die Berg-und Talfahrt der Gamestop-Aktie zu einer Erschütterung der Finanzmärkte beigetragen hat, werden sich die Regulierer aber ohnehin das Geschäftsmodell von Robinhood anschauen müssen, auch weil das Unternehmen aus Menlo Park in Kalifornien selbst an die Börse strebt. Über die App ist das Handeln mit Aktien aber auch deutlich risikoreicheren Papieren so einfach geworden wie die Online-Bestellung einer Pizza. Und es fallen noch nicht einmal Gebühren an. Verbraucherschützer werfen der Firma aber vor, auch komplizierte Finanzprodukte unerfahrenen Kunden zur Verfügung zu stellen, die dann nicht nur Gefahr laufen, ihr Erspartes zu verlieren, sondern sich auch kräftig zu verschulden.
Börsen-Experte Dirk Müller warnte am Freitag bei ntv.de: „Was bei Gamestop passiert, offenbart, dass Börse kein Spielfeld mehr ist, sondern ein Schlachtfeld.“
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