Gut fünf Jahre war Dick Costolo Chef von Twitter. Im Juli wird er das Amt beim Kurznachrichtendienst niederlegen. Im Interview zog Costolo nicht nur Bilanz, sondern warf auch einen Blick nach vorn und sprach über Wünsche und neue Ziele.
Der langjährige Chef des Kurznachrichtendienstes Twitter, Dick Costolo, zieht kurz vor seinem Abgang Bilanz. Seine Strategie zum Geldverdienen, die an der Börse zuletzt massiv angezweifelt wurde, werde sich in den kommenden Jahren als richtig erweisen, versichert der 51-Jährige. Eine Schlüsselrolle soll dabei das Projekt „Lightning“ spielen, bei dem Twitter selbst Medieninhalte bündeln und präsentieren will.
Zum 1. Juli werden Sie nicht mehr Twitter-Chef sein. Können Sie eine Bilanz in Tweet-Form ziehen?
Dick Costolo: Worauf ich am meisten stolz bin, ist das Team. Es war harte Arbeit und brauchte auch lange Zeit, es zusammenstellen.
Aber können Sie mit den oft als zu niedrig kritisierten Nutzer-Zahlen zufrieden sein?
Costolo: Nur drei Online-Dienste können Inhalte zu mehr als einer Milliarde Menschen bringen: YouTube, Twitter und Facebook. Das wissen auch Sport-Ligen und Medienunternehmen. Wir haben 300 Millionen aktive Nutzer – aber auch 500 Millionen weitere, die Twitter nutzen, ohne angemeldet zu sein, sowie 700 Millionen mehr, die wir über Partner erreichen. Zudem gehören zu uns mit „Vine“ und „Periscope“ zwei der großen Plattformen für Smartphone-Videos. Jetzt müssen wir der Welt zeigen, wie wir Inhalte an dieses Publikum bringen und damit Geld verdienen können. Das will vor allem die Börse sehen.
Sie haben sich zum Geldverdienen für Werbung in Form bezahlter Tweets entschieden. Steht das nicht in Konflikt mit der Art, wie die Leute Twitter nutzen möchten?
Costolo: Wir glauben, dass die Art, wie wir Geld mit den Inhalten verdienen und es in Zukunft tun wollen, nicht der Art widerspricht, wie Menschen Twitter nutzen. Es entspricht dem, was sie gewohnt sind, zum Beispiel kurze Videowerbung.
Allerdings ist die Herausforderung, dass Sie Twitter für neue Nutzer vereinfachen müssen, ohne Vielnutzer wie Journalisten zu verärgern. Gibt es da nicht einen Widerspruch?
Costolo: Das ist genau die Herausforderung, die ich zu lösen versuchte – wie können wir Möglichkeiten bieten, Neues zu entdecken, ohne den Twitter-Strom für 300 Millionen heutige Nutzer zu ruinieren. Die Lösung ist der neue Button in der App, der Nutzern auf Wunsch Zugang zu Medieninhalten geben wird. Wer Wert darauf legt, nur seine eigene Twitter-Timeline zu sehen, kann es weiterhin. Das muss sich nicht ausschließen. Wir werden im Herbst sehen, ob ich Recht habe.
Nach all den roten Quartalszahlen: Was ist die größte Hürde, um schließlich Geld zu verdienen? Brauchen Sie mehr Nutzer, damit die Werbemodelle funktionieren? Worin liegt das Problem?
Costolo: Ich glaube nicht, dass es irgendein Problem gibt. Unser Umsatz wächst schneller als bei jeder anderen börsennotierten Firma im digitalen Mediengeschäft. Wir haben den Umsatz im vergangenen Jahr um 97 Prozent gesteigert. Erlöse waren nie eine Herausforderung. Wir haben sogar häufig Gelegenheiten ausgelassen, schnell etwas Geld zu machen, um den Nutzern langfristig ein besseres Erlebnis zu bieten. So hatten wir Angebote für Aktionen auf unserer Homepage, bei denen wir gesagt haben: „Nein, das werden wir den Usern nicht zumuten.“
Über Twitter fließen Unmengen an News – aber andere Apps wie „Flipboard“ oder „Nuzzle“ sind besser darin, den Nutzern relevante Inhalte zu präsentieren, weil sie ihr Twitter-Umfeld auswerten. Springen Sie mit dem Projekt „Lightning“ auch auf diesen Zug auf?
Costolo: Nein, bei „Lightning“ suchen Twitter-Mitarbeiter die Inhalte aus – regional etwa für Deutschland oder Frankreich.
Wenn Twitter auf diese Weise Neuigkeiten zusammenstellt – agieren Sie dann selber wie ein klassisches Medienunternehmen?
Costolo: Wir erstellen selbst keine Inhalte, wir schreiben keine Texte, wir machen keine Fotos oder Videos. Wir stellen nur zusammen, was andere produziert haben. Die Stärke von „Lightning“ wird sein, dass Websites die Zusammenstellungen einbinden und damit einem viel größeren Publikum zugänglich machen können. Zweitens werden wir auch die Werkzeuge, mit denen wir die Medieninhalte auswählen, anderen zur Verfügung stellen. Wenn etwa jemand die besten Tweets über die jüngsten Proteste gegen Uber in Paris finden will – das geht. Dabei sorgen Algorithmen dafür, dass Nachrichten richtig zugeordnet werden, auch wenn kein Hashtag #Uber davor steht.
Was sind die Herausforderungen für Twitter in Deutschland?
Costolo: Auf dem Markt in Deutschland bietet sich uns die Gelegenheit, den Leuten klarzumachen, wie groß unser Publikum ist. Uns ist dabei wichtig, Managern zu erläutern, wie wichtig es ist, auf Twitter zu sein. Vor vier, fünf Jahren haben wir in den USA von den Chefs großer Firmen immer das Argument gehört, dass sie nicht auf Twitter kommunizieren können, weil sie der Vorstandsvorsitzende eines börsennotierten Unternehmens sind und die Rechtsabteilung was dagegen habe. Und heute? Apple-Chef Tim Cook ist auf Twitter, und der ist immerhin Boss des wertvollsten Unternehmens der USA. Er hört auf Twitter nicht nur zu, sondern veröffentlicht dort auch Inhalte. Satya Nadella, der neue Chef von Microsoft, nutzt aktiv Twitter. John Legere, der Chef von T-Mobile US, twittert die ganze Zeit und ist auch ein aktiver Nutzer unseres Videostreamingdienstes „Periscope“. Und alle erzählen mir, wie toll Twitter ist. Deswegen werde ich den Managern und Prominenten in Deutschland davon erzählen.
Barack Obama ist auf Twitter, Angela Merkel ist es nicht…
Costolo: Ich würde es natürlich gerne sehen, wenn alle Manager, alle Präsidenten, Kanzler und Ministerpräsidenten auf Twitter wären. Diejenigen, die Twitter bereits nutzen, wissen, dass es ein starkes Instrument ist. Im ersten Schritt springen sie einfach rein und hören zu, weil sie wissen wollen, welche Ansichten die Leute zu bestimmten Themen haben. Sie wollen wissen, was die Leute in ihren Wahlkreisen sagen oder was ihre Kunden denken. Oder was die Wettbewerber so sagen. Fast zwangsläufig verwenden sie Twitter dann auch, um Dinge zu veröffentlichen. Vielleicht fangen sie damit an, indem sie Tweets von anderen teilen oder einen Auftritt ankündigen. Aber im Laufe der Zeit wird diese Kommunikation immer intensiver.
Was hätten Sie gern noch als Twitter-Chef zu Ende gebracht?
Costolo: An dem Tag, wenn Projekt „Lightning“ im Herbst startet, wäre ich gern wieder in der Firma. Vermutlich werde ich dann ohnehin im Büro vorbeischauen. Aber es gibt immer zehn Dinge mehr, die man machen möchte. In den nächsten Jahren wird sich unsere Strategie auszahlen, ein möglichst großes Publikum zu versammeln und mit „Fabric“ eine Plattform für mobile Softwareentwicklung anzubieten. Sie hilft zehntausenden Entwicklern in aller Welt, bessere Apps zu schreiben, die zudem schneller sind. Damit entsteht eine Schicht der Software-Infrastruktur für das gesamte Ökosystem mobiler Apps. Zusammen mit dem Ansatz, Inhalte Millionen von Leuten zugänglich zu machen, ist das eine äußerst kraftvolle Kombination. Ich werde es vermissen, das mitzugestalten. Ich habe dafür eine klare Idee im Kopf, aber sie muss noch ausgestaltet und umgesetzt werden.
Aber Sie gehen trotzdem. Was war der Auslöser?
Costolo: Ende vergangenen Jahres habe ich einigen Mitgliedern des Verwaltungsrats gesagt, nicht allen, wie sich das für mich darstellt. Ich bin vor fünf Jahren gekommen, als wir 50 Leute waren, nur mit einem Büro in San Francisco, ohne irgendwelchen Umsatz. Wir hatten damals noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie wir einmal Geld verdienen wollen. Damals hatten wir einige Dutzend Millionen User. Heute sind wir bei 300 Millionen aktiven Nutzern, wir haben fast 1,5 Milliarden Dollar Umsatz erzielt. Wir beschäftigen mehrere tausende Leute und haben Dutzende Büros in aller Welt. Es gibt also eine lange Liste, was ich alles erreicht habe, aber ebenso eine lange Liste von Dingen, die ich gerne noch machen würde. Als ich angefangen habe, war meine Tochter zwölf Jahre alt. Jetzt ist sie 16 und geht bald aufs College. Ich habe ein wunderbares Team zusammenstellen können. Nun ist es ein guter Zeitpunkt, jemand anderen zu suchen, der mit diesem Team das Unternehmen führt. Ich hätte sonst einen Punkt erreicht, wo ich die nächsten sechs Jahre nicht aus der Verantwortung rauskäme.
Vielen Dank für das Gespräch.[Christoph Dernbach/Andrej Sokolow/buhl]
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