Jahrzehntelang hat gefühlt halb Deutschland den eigenen Alltag nach einer TV-Sendung ausgerichtet – nach der „Tagesschau“ um 20 Uhr. Auch in Zeiten des digitalen Wandels schalten um diese Uhrzeit Millionen Menschen ein.
Wer sehen will, wo Deutschlands wohl bekannteste Nachrichtensendung entsteht, stößt erst einmal auf eine typisch deutsche Kleingartenidylle. Beete, Sträucher und sogar der Gartenzwerg sind dort – einige Schrebergärten in Hamburg liegen in direkter Nachbarschaft zum neuen Nachrichtenhaus der „Tagesschau“.
Bislang saßen die Redaktionen bei ARD-aktuell getrennt voneinander – neben den „Tagesschau“-Sendungen betreuen sie die „Tagesthemen“, die Internetseite „tagesschau.de“, den Nachrichtenkanal Tagesschau24 sowie die „Tagesschau“-App und Social Media. Das soll sich nun ändern – mit einem neuen Newsroom. Das Ziel? Kürzere Wege und effizienteres Arbeiten, um in Breaking-News-Situationen schnell zu reagieren und die verschiedenen Ausspielwege für die Nachrichten der „Tagesschau“ noch besser zu verzahnen.
Das Publikum müsse verlässlich Informationen dort finden, wo es sie sucht – im linearen Fernsehen und in den digitalen Angeboten, wie der Zweite Chefredakteur von ARD-aktuell, Helge Fuhst, der Deutschen Presse-Agentur sagt. An diesem Donnerstag (10. Oktober) steht die Eröffnungsfeier für das Gebäude an.
Viele gepackte Kartons sind auf den Gängen der bisherigen Redaktionen zu sehen. Das neue Nachrichtenhaus auf dem Gelände des Norddeutschen Rundfunks (NDR) liegt direkt nebenan, die Gebäude sind miteinander verbunden. Im älteren Haus ist weiterhin das Studio untergebracht, in dem die „Tagesschau“ produziert wird. Am Bild der Sendung ändert sich für den Zuschauer durch das neue Nachrichtenhaus nichts. Das neue Gebäude ist für die Redaktion gedacht.
Es ist ein heller, offener Bau geworden, mit Glas und Ausblick auf – die Schrebergärten. 72 Arbeitsplätze gibt es im neuen Newsroom der „Tagesschau“. Das Projekt für die Redaktion startete 2015. Voraussichtlich ab Mitte November wird das Team im neuen Newsroom arbeiten, wie der Projektleiter für das Nachrichtenhaus und Chef vom Dienst bei der „Tagesschau“, Patrick Uhe, sagt.„Tagesschau“ weiter ein Quotenrenner
Die „Tagesschau“ zieht um 20 Uhr nach wie vor ein Millionenpublikum vor den Fernseher – obwohl es längst möglich ist, dass man die Sendung auch zeitversetzt im Internet sehen kann. Dem NDR zufolge waren es zwischen Januar und September dieses Jahres durchschnittlich 9,68 Millionen Zuschauer – ein Marktanteil von 35,6 Prozent. Der Wert ist bezogen auf den Vergleichszeitraum 2010 sogar gestiegen. Damals waren es rund 9,04 Millionen Zuschauer. Uhe sagt: „Wir sind davon ausgegangen, dass der Konsum des linearen Fernsehens absackt. Interessanterweise steigen die Quoten in der 20-Uhr-Tagesschau noch.“
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen sagt über diese Entwicklung: „Die „Tagesschau“ ist ein Orientierungsformat mit einem zentralen Versprechen: die Ereignisse der Welt in 15 Minuten. Dieses Angebot der Komplexitätsreduktion wird beliebter – auch weil die allgemeine Verunsicherung in der digitalen Öffentlichkeit zunimmt und man im frei herumwirbelnden Informationskonfetti oft nicht weiß: Wem kann man vertrauen?“
An Sendeplatz und Sendelänge wird nicht gerüttelt – eine Tradition, die 1952 begann, hält sich. Fuhst sagt: „Ich kann mir Deutschland ohne „Tagesschau“ um 20 Uhr nicht vorstellen.“ In seiner Kindheit lief das so ab – und wohl nicht nur in seiner Familie: „Bei uns zu Hause war es früher immer so, als es noch die Festnetztelefone gab: Wenn da jemand gewagt hat, zwischen 20 Uhr und 20.15 Uhr anzurufen, das war ja eine Frechheit und man hat es klingeln lassen. Und die „Tagesschau“ war das Einzige im Fernsehen, was während des Essens laufen durfte.“
Wie sieht die „Tagesschau“ in einigen Jahren aus? „Es ist noch nicht absehbar, dass die echten Sprecher oder Moderatoren der anderen Ausgaben bei uns durch Roboter oder Ähnliches ersetzt werden“, sagt Fuhst. Trotzdem dürfe es nicht verpasst werden, technisch zu experimentieren.
Wird sich an der Arbeit der Reporter und Kameraleute etwas ändern – könnten Redakteure zum Beispiel eigene Handy-Videos in die Sendung einbinden und das klassische Kamerateam ersetzen oder ergänzen? Uhe sieht das persönlich so: „Ja, ich kann mir das vorstellen. Weil wir – glaube ich – an den Produktionskosten von Fernsehen arbeiten müssen, die sind wirklich verdammt hoch.“ Wenn sich etwa ein Korrespondent in einem Krisengebiet befinde und der Kameramann vielleicht noch nicht da sei oder die Infrastruktur nicht gegeben sei, um etwas abzusetzen – dann könne ein Handy-Video helfen oder ein Gespräch über Skype.
Auch an neuen Produkten sitzt ARD-aktuell. Uhe betont: „Das ist alles andere als alte Tante „Tagesschau“. Derzeit werde an Podcast-Formaten gearbeitet. Seit einigen Wochen gibt es auch mehrmals am Tag Kurzzusammenfassungen der „Tagesschau“ über den Facebook-Messenger und Telegram, wie Fuhst ergänzt. Innovation gehöre zum Alltag, um dem Anspruch gerecht zu werden, jede und jeden in allen Altersgruppen mit Nachrichten der „Tagesschau“ zu erreichen. [Anna Ringle]
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