Immer mehr Portale buhlen ums deutsche Streamingpublikum. Der Kampf um Serien und Filme wird härter. Die Grenzen zwischen Fernsehen und Streaming verschwimmen dabei zusehends.
Bald ist es fünf Jahre her, dass die Corona-Pandemie Milliarden Menschen in den Hausarrest zwang und als Nebeneffekt weltweit einen gewaltigen Push bei Video-Streaming auslöste. Netflix, Prime Video, Disney+ Apple TV+, RTL+, Joyn, die öffentlich-rechtlichen Mediatheken und andere Anbieter erlebten traumhafte Zuwachsraten bei Nutzern und Nutzung.
Auch wenn das Wachstum sich verlangsamt hat, sind die Zahlen auch nach Corona gestiegen. Allein in Deutschland hat sich die Anzahl der Abonnentinnen und Abonnenten digitaler Abrufdienste im Jahr 2023 auf über 21 Millionen erhöht. Mehr als 64 Millionen Menschen nutzten hierzulande mindestens einmal ein Streamingangebot. Das entspricht gut 80 Prozent der Bevölkerung.
Verdrängungswettbewerb ist in vollem Gange
Dennoch ist die Begeisterung unter den Anbietern inzwischen etwas gedämpfter. Einige Player haben die Gewinnzone bisher nicht erreicht. Und der Kampf um die Programmware – die besten Serien und beliebtesten Filme – wird aggressiver.
Manche Programm-Produzenten verweigern sich auch. Deutschlands wichtigster Autorenfilmer Wim Wenders („Paris, Texas“) etwa: „Ich arbeite mit den Streamern nicht, weil sie mir zu gierig sind, sie behalten ja alle Rechte“, sagt der Filmemacher der Deutschen Presse-Agentur. „Was wollen sie mit den Inhalten denn machen? Nach der Auswertung kommen sie alle in eine große Gruft, und viele sind dann für alle Zeiten tot.“
Alle Anbieter werben um die selben Kunden
Ein Verdrängungswettbewerb macht sich breit. „Alle, ob Sender oder Streamingportale, wollen inzwischen die gleichen Inhalte zeigen und suchen sie hier auch“, schildert das Vorstandsmitglied des Londoner Unterhaltungsproduzenten Fremantle, Jens Richter, kürzlich auf der weltgrößten TV-Messe Mipcom in Cannes. Da nun alle im selben Becken fischen würden, würden auch die Grenzen immer mehr verschwimmen.
„Klassische Sender und Streamer nähern sich immer mehr an, Amazon oder Netflix etwa setzen jetzt Werbung ein und zeigen Live-Übertragungen, während die TV-Sender ihren Fokus auf ihre Streamingangebote legen“, so Richter. Ein Beispiel aus seinem Haus ist die Show „Got Talent“, die beim italienischen Disney+-Angebot in einer lokalen Version abrufbar ist. In Deutschland war es als „Das Supertalent“ bei RTL zu sehen. Marken werden stärker austauschbar.
TV-Sender verlängern ihre Marken ins Streaming
Zugleich nutzen TV-Stationen bekannte Formate aus ihrem linearen Programm, um Reichweite auf ihren Onlineplattformen zu erreichen. Ein Beispiel dafür ist „Uferpark – Gute Zeiten, wilde Zeiten“, wie Oliver Schablitzki von RTL berichtet. Der „GZSZ“-Ableger hat die junge Zielgruppe im Visier und läuft seit November auf RTL+.
Einen ganz eigenen Weg geht Netflix. Obwohl das US-Unternehmen bereits viele erfolgreiche Serien selbst produziert hat, wollte die Mutter aller Streamingdienste sie noch nie an einen anderen Anbieter verkaufen – das macht sonst in der Branche niemand so. Dabei sitzt Netflix laut dem letzten Geschäftsbericht auf Gesamtschulden von 16 Milliarden Dollar (15,3 Milliarden Euro).
Netflix geht seit einigen Monaten gegen das Teilen von Passwörtern über einen Haushalt hinaus vor. Das treibt auch das Wachstum der Nutzerzahlen an. Viele bisherige Trittbrettfahrer holten sich ein eigenes Abo, statt Netflix den Rücken zu kehren. Dennoch wird der weitere wirtschaftliche Erfolg wohl auch mit der Annäherung an TV einhergehen: „Nur mit Werbung und dem Handel der Kundendaten können Streamer Gewinne erzielen“, ist sich der Fernsehwissenschaftler Lothar Mikos sicher.
Umgekehrt hält sich das gewohnte Fernsehen, das seine Streaming-Produktion immer weiter ausbaut, immer noch auf einem großen Sockel. Weiterhin schauen in Deutschland 72 Prozent (2023: 80 Prozent) aller Menschen mindestens einmal im Monat lineares TV. ZDF-Studio-Chef Markus Schäfer betonte kürzlich: „Dass das klassische Fernsehen ein Auslaufmodell ist, das ist völliger Quatsch.“
Wilfried Urbe
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