Es ist einer der schwersten Skandale in der britischen Medienwelt: Reporter sollen die Handys von Prominenten und Verbrechensopfern abgehört haben. Die Affäre berührt die ganze Gesellschaft im Mutterland der Pressefreiheit. Mittendrin: Medienmogul Rupert Murdoch.
Illegale Abhörmethoden, geschmierte Polizisten und bloß gestellte Prominente: Großbritannien, Mutterland der Pressefreiheit, wird von einem der schwersten Medienskandale in seiner Geschichte erschüttert. Der Abhörskandal, der im wesentlichen bei der häufig als „Revolverblatt“ verschrienen Boulevard-Sonntagszeitung „News of the World“ aus dem Medienimperium von Rupert Murdoch spielt, berührt fast alle Ebenen der Gesellschaft: Politik, Wirtschaft, Königshaus, Polizei, aber auch Otto Normalbürger.
Am Montag kam über eine Veröffentlichung des „Guardian“ heraus, dass die Reporter nicht nur Prominente, darunter Schauspieler wie Sienna Miller und Jude Law bespitzelt haben, sondern auch mindestens ein entführtes Mädchen. Die Reporter sollen, so der Vorwurf, die Handy-Mailbox des Kindes nicht nur abgehört, sondern sogar alte Meldungen gelöscht haben, um Platz für neue Konversationen zu schaffen. Auf diese Weise wurden Eltern und Polizei in den Glauben versetzt, die kleine Milly könnte noch leben, obwohl ihr Entführer sie bereits ermordet hatte.
Die Polizei untersucht jetzt, ob ähnliche Praktiken vielleicht auch bei anderen Entführungsfällen, etwa bei der noch immer vermissten Madeleine McCann eine Rolle spielen könnten. Auch Angehörige der Opfer der Terroranschläge vom 7. Juli 2005 sollen abgehört worden sein. Und damit nicht genug: Polizeibeamte sollen den Reportern gegen Geldzahlungen Informationen zugeschoben haben. E-Mails mit angeblichen Beweisen dafür übergab die „News of the World“ am Mittwoch den Ermittlern.Britischer Journalismus am Scheidepunkt
Bis zu den neuen Enthüllungen hatte der seit spätestens 2007 schwelende Abhörskandal eher als Mittel zum politischen Ränkespiel getaugt. Premierminister David Cameron machte den zurückgetretenen „News of the World“-Chef Andy Coulson ungeachtet der Vorwürfe sogar zu seinem Regierungssprecher und wichtigsten Medienberater – und ließ ihn später wieder fallen. Selbst die Polizei ermittelte zunächst so lasch, dass erst auf Druck Betroffener und der Öffentlichkeit die Ermittlungsakten noch einmal geöffnet wurden.
Der Verdacht, das Schicksal eines entführten Mädchens könnte für Zwecke der Sensationspresse ausgenutzt worden sein, hat nun aber einen Aufschrei in Großbritannien ausgelöst. Am Mittwoch beriet umgehend das Parlament über den Fall, Premierminister David Cameron forderte eine öffentliche Untersuchung. Oppositionsführer Ed Miliband forderte die Verlagschefin von News International und Vorgängerin Coulsons als Chefredakteurin bei „News of the World“, Rebekah Brooks, indirekt zum Rücktritt auf. Sie selbst will – genauso wie ihr Nachfolger Coulson – nichts von den Methoden ihrer Leute gewusst haben.
Plötzlich geht es nicht mehr um einzelne schwarze Schafe. Inzwischen geht es um die Rolle der Presse in Großbritannien, die den Blick unter die Bettdecke nie gescheut hat. Die „Times“ schrieb am Mittwoch, der gesamte britische Journalismus sei an einem Scheidepunkt angelangt. Der Journalismus-Professor und „Guardian“-Kommentator Roy Greenslade sagte: „Die Abhörgeschichte hat das Potenzial, auch den ganzen Rest der Presse und der Journalisten, die für sie arbeiten, zu beschmutzen.“ Und er fügte hinzu: „Wir haben das öffentliche Vertrauen verloren, weil zu viel des veröffentlichten Materials keinen dauerhaften Wert für die Gesellschaft darstellt.“Erste Anzeigenkunden stornieren Buchungen
Schon im April hatte Londons Bürgermeister Boris Johnson in einerZeitungskolumne öffentlich die Frage gestellt: „Glaubt ernsthaft jemand,dass die „News of the World“ die einzige Zeitung ist, die das tut?“ Undder medienerfahrene frühere Herausgeber des „Spectator“ fügte damalshinzu: „Ich wette, dass die ganze Fleet Street ziemlich genau dasGleiche gemacht hat – oder noch tut.“ Dass erst vor kurzem dieKönigshaus-Reporterin der angesehenen Nachrichtenagentur PressAssociation (PA) unter Abhörverdacht vorläufig festgenommen wurde,scheint Johnsons These zu stützen. Sie ist auf Kaution frei,Ermittlungen laufen.
Medienfachleute sind sich einig: Der Abhörskandal ist auch ein Ausdruckdes härter gewordenen Überlebenskampfes auf dem britischen und spezielldem Londoner Zeitungsmarkt. Ein inhaftierter Privatdetektiv etwa sprachMedien gegenüber von einem „enormen Druck zu liefern“. Für die „News ofthe World“ dürfte die offensive Kampfesführung zum Pyrrhussieg werden.Sienna Miller hat schon 100 000 Pfund an Schadensersatz erfochten,weitere Zahlungen dürften folgen. Angesehene britische Firmen wie Lloydskündigten ihre Anzeigenkontrakte mit dem Blatt auf. [Michael Donhauser/ar]
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