Seine Amtszeit hat zwar gerade erst begonnen, über zu wenig Arbeit kann sich der neue ARD-Vorsitzende Lutz Marmor aber nicht beklagen. Es warten viele Baustellen bei der ARD, darunter der Vorabend, der Jugendkanal oder auch die Finanzen. Wie er diese angehen will, verrät Marmor im Interview.
Deutlich mehr als eine Million Haushalte haben bisher keine Gebühren entrichtet, weil sie keine Rundfunkteilnehmer waren. Jetzt werden sie bei dem neuen Rundfunkbeitrag zur Kasse gebeten. Eine sichere Zukunft für ARD und ZDF?
Lutz Marmor: Die Zukunft ist nie sicher. Zwar werden möglicherweise mehr Menschen ihrer Zahlungspflicht nachkommen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir auf der anderen Seite weniger Einnahmen haben werden. Zum Beispiel bei Haushalten mit mehreren Verdienern oder bei Wohngemeinschaften. Dort muss nur noch ein Beitrag gezahlt werden.
Einige Anzeichen deuten darauf hin, dass der neue Rundfunkbeitrag mehr Einnahmen bringt. Der Gebührenzahler könnte somit unter Umständen ab 2015 mit einer Beitragssenkung rechnen.
Marmor: Wir haben diese Anzeichen nicht. Der letzte Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs, der KEF, hat grundsätzlich eine Lücke bei ARD, ZDF und Deutschlandradio in Höhe von 304 Millionen Euro festgestellt. Sollten die Beitragseinnahmen höher ausfallen, dann – so ist es im Verfahren vorgesehen und die KEF wird es sehr genau nachprüfen – dürfen die Sender das nicht behalten. Die Beitragseinnahmen werden dann dazu verwendet, den Beitrag zu stabilisieren oder zu senken. Es ist allerdings am wahrscheinlichsten, dass die Erträge sich etwa auf dem Niveau der vergangenen Gebührenperiode bewegen.
Wie können Sie überhaupt arbeiten, wenn Sie nicht wissen, wie viel Sie 2013 einnehmen?
Marmor: Im Vergleich zur Lage vieler anderer Unternehmen ist diese Unsicherheit verkraftbar. Wir kennen unsere Werbeeinnahmen nicht exakt, Zinserträge auf Rückstellungen für unsere Altersversorgung sind auch nicht genau vorhersehbar. Wir haben in begrenztem Umfang immer Unsicherheiten, dieses Mal allerdings mehr als bislang. Man muss das sehr genau beobachten, gegebenenfalls muss weiter gekürzt werden. Damit haben wir Erfahrung: Zum Beispiel haben wir im NDR in der letzten Periode Sparprogramme umgesetzt. Bis 2014 haben wir sechs Jahre lang einen stabilen Beitrag, obgleich es Kostensteigerungen gibt. Energiepreise steigen, Löhne und Gehälter steigen, dies muss aufgefangen werden. Die ARD-Anstalten haben ihr Personal sozialverträglich abgebaut ihre Effizienz gesteigert.
Haben denn die kleinen Sender wie Radio Bremen und Saarländischer Rundfunk überhaupt noch Überlebenschancen angesichts der Sparprogramme größerer Anstalten?
Marmor: Jeder weiß, dass Radio Bremen bezuschusst werden muss – das ist kein Fehler, das ist gesetzlich so vorgesehen. Der NDR hilft RB mit Kooperationen, wir senden für fünf Länder ein drittes Fernsehprogramm, das ist bundesweit einmalig. Es ist aber eine Entscheidung der Politiker in Bremen, ob es Radio Bremen geben soll oder nicht. Und ich kenne keinen Politiker in Bremen, der Radio Bremen nicht will.
Jede Anstalt produziert mindestens einen „Tatort“. Wie wäre es – um Kosten zu sparen – mit einer bundesweiten gemeinsamen Redaktion?
Marmor: Gerade der „Tatort“ als beim Publikum erfolgreichstes Fernsehformat ist das beste Beispiel dafür, dass jeder Sender mit einer eigenen Redaktion einen wichtigen Beitrag leistet. Allerdings zahlt Radio Bremen seinen „Tatort“ nicht selbst. Da helfen die übrigen Sender der ARD. Wir haben sogar gerade beschlossen, das Budget für den Bremer „Tatort“ moderat zu erhöhen, ebenso für den aus dem Saarland. Auch die Berliner „Tatorte“ und einer aus Hessen werden von der ARD mitfinanziert. Die ARD ist eine Kooperationsmaschine schlechthin.
Das ZDF ist dem von der ARD als Gemeinschaftsprojekt angekündigten Jugendkanal etwas spröde begegnet. Was machen Sie nun?
Marmor: Es ist erst einmal schön, dass sich die ARD auf ein Gesprächskonzept mit dem ZDF verständigt hat. Das ZDF ist ein gleichberechtigter Partner. Da wird man sich in den anlaufenden Gesprächen, die der SWR für die ARD federführend übernimmt, auf eine gemeinsame Position verständigen. Und bevor wir über Finanzen reden, müssen wir ein programmliches Konzept finden. Ob der Kanal nun ein halbes Jahr früher oder später kommt, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass es dann ein vernünftiges gemeinschaftliches Angebot gibt. Wir brauchen am Ende einen Auftrag von der Politik, von 16 Ländern.
Welche Baustellen ärgern Sie denn am meisten, die Sie unbedingt in Ihrer Amtszeit schließen wollen?
Marmor: Ich weiß, dass wir programmlich im Ersten noch Baustellen haben, und ich will sehen, dass wir in meiner Amtszeit die Weichen richtig stellen. Der Vorabend im Ersten ist noch nicht so, wie ich ihn mir vorstelle. Wir müssen uns in der Unterhaltung verbessern – wie wir es zum Beispiel mit der Show „Klein gegen Groß“ mit Kai Pflaume geschafft haben. Den Freitagabend müssen wir qualitativ verbessern – Komödie ist das schwierigste Fach überhaupt. Aber der Erfolg wird sich erst in einem längeren Zeitraum erweisen. Auch am Donnerstag haben wir Nachholbedarf, da spüren wir mitunter recht deutlich den Wettbewerb mit dem ZDF.
Kommt Rückkehrer Thomas Gottschalk für den Donnerstag infrage?
Marmor: Ich führe nicht die Gespräche mit Gottschalk. Die Kollegen, die mit ihm reden, denken aber eher an Samstag. Gottschalk steht nach wie vor für gute Unterhaltung. Aber der beste Entertainer kann nichts ausrichten, wenn das Konzept der Sendung nicht stimmt. Das ist nicht immer die Verantwortung des Moderators.
Wäre eine übergreifende gemeinsame Showredaktion aller Anstalten nicht eine Lösung?
Marmor: Natürlich denken wir auch über eine gemeinsame Unterhaltungsredaktion nach. Auf Biegen oder Brechen macht das aber keinen Sinn. Jetzt gehen wir erst einmal wichtige Schritte, indem wir Gelder und Formate bündeln. Wir haben 29 unterschiedliche Formate, die Konkurrenz deutlich weniger. Da müssen wir uns – bei aller föderalen Vielfalt – ein Stück konzentrieren. Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber ist dabei, diese Dinge in die richtige Richtung zu bewegen. So können wir von „Klein gegen Groß“ nicht mehr nur drei, sondern fünf Ausgaben produzieren. Da muss der Weg hingehen.
Welche Formate oder Sendungen sind verzichtbar?
Marmor: Wir werden beispielsweise die Zahl unserer volksmusikalischen Sendungen reduzieren und konzentrieren. Damit das nicht missverstanden wird: „Die Feste der Volksmusik“ mit Florian Silbereisen haben auch weiterhin ihren Platz im Ersten. Wer bin ich denn, dass ich Menschen, die sich daran erfreuen, sage: „Nein, das könnt ihr jetzt nicht mehr bekommen.“ Das hat für ein bestimmtes Publikum einen hohen Wert, und wer, wenn nicht die öffentlich-rechtlichen, sollen solche Sendungen präsentieren? Da halte ich auch mal Kritik aus. Da bin ich lieber Zuschauerversteher als Journalistenversteher.
Und wie wäre es, eine Abend-Talk-Show zu streichen?
Marmor: Die Talkshows sind nicht unser Hauptproblem. Ich verstehe nicht, wie dieses Thema manchmal in den Medien hochgejazzt wird. Ich erwarte doch nicht, dass der Zuschauer alle fünf Talkshows im Ersten guckt. Das sind Angebote. Jeder kann nach seinem Zeitbudget, nach seiner Vorliebe für Moderatorinnen und Moderatoren sowie nach seinem Themen- und Gäste-Geschmack auswählen.
Kritik kommt ja nicht nur aus den Medien, sondern auch von ARD-Gremien.
Marmor: Die nehmen wir ja auch ernst. Sie haben Anregungen gegeben, und vieles wurde umgesetzt. Wir achten auf mehr Vielfalt bei den Gästen, wir haben mehr Frauen dabei, es gibt andere Themen. Und die Zuschauer stimmen dem zu. Natürlich werden wir die Entwicklung weiter beobachten und dann nochmals Bilanz ziehen – aber nicht vorschnell. Zugegeben, es gibt ein Problem mit den Zuschauerzahlen bei Reinhold Beckmann am Donnerstag. Das hat aber nichts mit der Qualität seiner Sendung zu tun, sondern mit dem Sendeplatz.
Wie empfindlich trifft Sie die Entscheidung des Netzbetreibers Kabel Deutschland, nach der Kündigung von ARD und ZDF gerade die ARD-Angebote bei der Einspeisung einzuschränken?
Marmor: Ich bedaure eines: Dass der Streit auf dem Rücken unserer gemeinsamen Kunden ausgetragen wird. Ich weiß nicht, warum das notwendig sein soll. Wir werden weiterhin miteinander reden und nach Lösungen suchen. Unabhängig davon gibt es die rechtliche Auseinandersetzung.
Wäre der Rechteerwerb der Champions League für das Erste noch einmal ein Ziel?
Marmor: Nein. Das sage ich ganz offen. Man kann nicht alles haben: Mir sind die Bundesliga und der DFB-Pokal lieber.
Vielen Dank für das Gespräch. [Interview: Almut Kipp und Carsten Rave/fm]
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