Immer wieder Erdogan: Der türkische Präsident dominiert die Medien. Alternative Kanäle wollen für ausgewogene Berichterstattung sorgen – im Wahlkampf, aber auch am Wahltag selbst.
Die Studioleuchten stehen schon, das Programm noch nicht ganz. Die Studentin Bahar Ünlü steht am Sonntag bei den Wahlen in der Türkei das erste Mal als Moderatorin vor der Kamera. Viel Erfahrung hat sie nicht. „Ich bekomme das schon irgendwie hin“, sagt sie und lächelt. Aus dem kleinen Studio im Istanbuler Stadtteil Kadiköy heraus wollen Ünlü und ihre Kollegen des türkischen Netzwerks „dokuz8haber“ den Wahltag live kommentieren, Reporter im ganzen Land sollen über eventuelle Unregelmäßigkeiten berichten. Im Wahlkampf geben sie der Opposition Raum. Ihre Plattformen sind Twitter, Facebook und YouTube.
„Dokuz8haber“ („Neun8Nachrichten“) sieht sich als Gegenentwurf zu den Mainstram-Medien in der Türkei. Das Netzwerk ist aus den regierungskritischen Gezi-Protesten 2013 entstanden. Der Journalist Göhkan Bicici hat es gegründet, gegen die „Zensur“, wie er sagt. Die Plattform schult Freiwillige in journalistischen Standards – inzwischen sind es 500, die im ganzen Land für „dokuz8haber“ arbeiten. In der Istanbuler Zentrale prüfen und sortieren Redakteure die Nachrichten. Sie sitzen um einen Tisch herum, tippen, schreiben, senden.
Die Bürgerjournalisten berichteten schon über das Verfassungsreferendum im April 2017. Bei den Wahlen am Sonntag haben sie eine besondere Rolle. „Dokuz8haber“ ist Teil der „Plattform für faire Wahlen“, einer Dachorganisation, die zahlreiche Wahlbeobachter koordiniert. Das Netzwerk will dafür sorgen, dass eventuelle Kritik am Wahlablauf nicht untergeht.
Die Mainstream-Medien in der Türkei dagegen berichten schon lange nicht mehr kritisch. Ein Großteil der Fernsehsender und Zeitungen stehen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP nahe.
Als nicht ganz auf Regierungslinie galten bislang noch die Medien des Dogan-Konzerns, zu denen der Sender CNN Türk, Kanal D und die Zeitung „Hürriyet“ gehörten. Im Mai jedoch kaufte ein Erdogan nahestehender Konzern die Dogan-Mediengruppe. Journalist und Geschäftsführer von „dokuz8haber“ , Gürkan Özturan, fällt dazu ein vernichtendes Urteil: „Vor dem Verkauf gab es zumindest noch die Illusion pluralistischer Medien. Jetzt ist uns noch nicht mal diese Illusion geblieben.“
Eine vielseitige Medienlandschaft ist wichtig, damit sich die Wähler unabhängig informieren können, worüber sie eigentlich abstimmen. Nach Ansicht von Wahlbeobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war das schon beim Referendum 2017 in der Türkei nur sehr eingeschränkt möglich. Damals stimmten die Türken für die Einführung eines Präsidialsystems, das Erdogan bei einer Wiederwahl mehr Macht verleihen würde. Die Wahlbeobachter kritisierten in ihrem Abschlussbericht: „Einseitige Dominanz in der Berichterstattung und Restriktionen gegen Medien“ hätten die freie Meinungsbildung der Wähler eingeschränkt.
Etwas mehr als ein Jahr später zeigt das Fernsehen wieder fast nur Erdogan. Messbar ist das mit den Zahlen der Rundfunkbehörde (RTÜK). Ilhan Tasci, der für die Oppositionspartei CHP in dem Gremium sitzt, veröffentlichte Anfang Juni die neueste Auswertung: Zwischen dem 14. und 30. Mai erhielten Erdogan und seine AKP im Staatssender TRT rund 68 Stunden Sendezeit. Dem aussichtsreichsten Oppositionskandidaten Muharrem Ince und seiner Partei CHP räumte der Sender dagegen nur 6 Stunden 43 Minuten ein. Die HDP und ihr inhaftierter Kandidat Selahattin Demirtas kamen gar nicht vor. Vergangenen Sonntag nahm Demirtas eine vom Gesetz eingeräumte Redezeit im Staatssender in Anspruch – aus dem Gefängnis heraus. Am Gesamtbild ändert das nichts.
Die Türkei ist abgestürzt auf Platz 155 von 178 auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Dutzende Journalisten sitzen im Gefängnis. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 ließ Erdogan per Notstandsdekret zudem zahlreiche Medien schließen. Auch „dokuz8haber“ wurde schon unter Druck gesetzt. Die Polizei durchsuchte das alte Büro mehrmals. Das neue blieb bislang verschont, doch eine Schließung droht quasi immer. „Das wäre ärgerlich, wir haben gerade erst eine Klimaanlage einbauen lassen“, witzelt Özturan.
Nun konzentriert sich das Netzwerk vor allem auf den Wahltag. Neben Berichten über möglichen Wahlbetrug gehe es dabei vor allem darum, „Manipulationen durch die Medien“ zu verhindern, sagt Özturan. Hochrechnungen gibt es in der Türkei nicht. Die Erfahrungen vergangener Wahlen zeigen, dass erste Teilergebnisse, die durch die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu verbreitet werden, zunächst einen deutlichen Vorsprung für Erdogan zeigen. Der kann aber im Laufe der Auszählungen schrumpfen. Özturan befürchtet, dass die staatliche Agentur die Opposition mit ihrer Berichterstattung vor sich hertreiben könnte. „Wahlbeobachter könnten demoralisiert werden und enttäuscht nach Hause gehen, obwohl noch nicht alle Stimmen ausgezählt sind“, sagt er. „Da fängt die Gefahr des Wahlbetrugs erst an.“
Seit dem Referendum vor mehr als einem Jahr ist das Netzwerk gewachsen. Zehn Mitarbeiter arbeiten in Istanbul inzwischen bezahlt. Aus einem Raum sind fünf geworden. Aus den 76 000 Followern auf Twitter von damals wurden mehr als 100 000. Der Grenzen ihres Einflusses sind sich die Journalisten bewusst. Das dominierende Medium ist das Fernsehen. Die letzten Tage vor der Wahl werben die Bürgerjournalisten für mehr Aufmerksamkeit – und machen Moderatorin Ünlü fit für ihren ersten Auftritt.
[Mirjam Schmitt]
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