Zu den Ritualen der Gewerkschaft Verdi zählen im Jahresendspurt auch Streiks bei Amazon. Doch der weltgrößte Versandhändler versichert den Kunden: Alle Vorbereitungen für pünktliche (Geschenke-)Lieferungen sind getroffen. Denn das Netzwerk des Branchen-Primus wächst.
Weihnachtszeit ist Streikzeit. Wenn es aufs große Fest mit reichlich Geschenken zugeht, ruft die Gewerkschaft Verdi regelmäßig zum Arbeitsausstand beim Versandhändler Amazon auf. Das ist seit Jahren die gleiche Prozedur – und kommt so sicher wie der erste Schnee in den Alpen.
Begonnen hat das Kräftemessen zwischen der Gewerkschaft und dem Branchen-Riesen aus den USA bereits im Mai 2013 mit den ersten Streiks. Und nun, in der heißen Phase des Weihnachtsgeschäfts, kündigt Verdi erneut Aktionen an, um eine Tarifbindung zu erzielen: „Amazon kann sich in der Weihnachtszeit auf Streiks gefasst machen“, sagt Günter Isemeyer, Sprecher im Verdi-Bundesvorstand, in Berlin. Mehr wollte er sich nicht entlocken lassen. „Es ist ein großes taktisches Spiel“, erklärt er.
Damit die Kunden beim Poker der erbitterten Kontrahenten nicht die Leidtragenden sind, hat sich Amazon als weltgrößter Versandhändler akribisch auf den lukrativen Jahreshöhepunkt vorbereitet. „Wir sind auf viele Szenarien eingestellt. Streiks sind aber nur eine Variable, wie etwa das Wetter mit Eis und Schnee und erschwerten Bedingungen“, erklärt Amazon-Sprecher Stefan Eichenseher in München. Er verspricht: „Die Pakete werden pünktlich bei den Kunden ankommen. Wer bis Freitag vor Heiligabend bestellt, bekommt auf jeden Fall seine Lieferung. Eventuell klappt es auch noch später.“ Auskünfte zu Lieferzeiten seien beim jeweiligen Produkt im Internet hinterlegt.
Ein Faktor könnte auch werden, inwiefern Amazon seine Mannschaft in den Lieferzentren mit Geld zu motivieren vermag – und damit Argumente gegen eine Teilnahme an Streiks liefert. Es gebe ein umfangreiches Bonus-System für die Mitarbeiter in einem Großteil der zwölf Logistikzentren bundesweit, sagte Eichenseher. „Wer zuverlässig arbeitet, hat auch einen Bonus verdient.“
Am größten Standort bundesweit in Bad Hersfeld gebe es beispielsweise eine Vereinbarung vom 10. bis 22. Dezember für einen Anwesenheitsbonus. Es gibt zusätzlich für jeden Tag, an dem der Mitarbeiter arbeitet, 10 Euro Bonus. Dazu gibt es noch mal 50 Euro pro Woche, wenn der Beschäftigte die ganze Woche da ist. Zusätzlich erhalten Mitarbeiter eine Jahressonderzahlung von 400 Euro, wie Eichenseher erklärte. Die Botschaft soll sein: „Es lohnt sich.“
Verdi wird vor Augen geführt, dass Amazon finanziell über Ressourcen verfügt. Zudem wird auch das Netz der Waren- und Lieferzentren in Deutschland immer verzweigter. Zwölf an elf Standorten sind es mittlerweile bundesweit. Dort arbeiten knapp 13 000 Festangestellte und Tausende von Saison-Aushilfen. Im vergangenen Sommer kam das Lager in Frankenthal (Rheinland-Pfalz) hinzu, 2017 wurde ein neues in Winsen/Luhe (Niedersachsen) eröffnet. Beide sind mit moderner Roboter-Technik ausgestattet. Das ist nicht nur praktisch. Denn Roboter verlangen keine Tarifverträge.
Der Wachstumskurs geht weiter: Das nächste Lager ist bereits in Planung und wird in Mönchengladbach (NRW) entstehen. Neben dem deutschen Netzwerk verfügt Amazon über ein europäisches mit mehr als 45 Logistikzentren. Wenn in Deutschland größer gestreikt werden sollte, können auch Lieferungen aus dem Ausland erfolgen, erklärt Amazon. Aber zu bedenken sei auch: Ohnehin streikt nur ein Teil der Belegschaft in Deutschland, wie Amazon betont.
In der Frühphase des Weihnachtsgeschäfts hielt sich Verdi mit Streiks zurück. Am Black Friday, einem Schnäppchen-Tag, wurden vor kurzem nur zwei von zwölf Logistikzentren bestreikt. Zur geringen Beteiligung sagte der Verdi-Sprecher: „Wir wollen halt nicht dann streiken, wenn Amazon damit rechnet. Wenn mehr Personal geordert wird, um potenzielle Streiks zu kompensieren, es aber nicht gebraucht wird, ist der Schaden umso größer.“
Der Verdi-Sprecher läss kein gutes Haar an der Geschäftspolitik des Branchen-Riesen aus den USA. Was die Gewerkschaft am meisten stört: „Amazon weigert sich rechtsverbindliche Tarifverträge einzugehen.“ Verdi verlangt eine Vereinbarung nach den Bedingungen des Einzel- und Versandhandels. Amazon betont dagegen: Man könne auch ohne Tarifvertrag ein guter Arbeitgeber sein. „Wir bezahlen in unseren Logistikzentren am oberen Ende dessen, was für vergleichbare Tätigkeiten üblich ist. In Deutschland beginnen die Mitarbeiter mit einem Lohn von umgerechnet mindestens 10,78 Euro brutto pro Stunde“, erklärt Eichenseher. Ohnehin zahle Amazon bessere Jahresgehälter als nach dem Logistik- oder Handelstarif. „Es könne aber nicht sein, dass das allein ins Belieben des Arbeitgebers gestellt werde. Die Mitarbeiter brauchen Sicherheit“, sagt Isemeyer.
Zwar ist Verdi noch weit vom Durchbruch im Tarifstreit entfernt. Aber die Gewerkschaft schreibt sich auf die Fahnen, schon viel erreicht zu haben. „Ohne uns gäbe bestimmt keine Lohnerhöhungen, Weihnachtsgeld und verbesserte Arbeitsbedingungen“, glaubt Isemeyer. Um schlagkräftiger zu werden, arbeitet Verdi weiter an einer internationalen Vernetzung; etwa in Polen, Spanien, Italien und Großbritannien. Zwar sind Erfolge in dieser Hinsicht kaum wahrnehmbar. Aber Isemeyer betont: „Das ist ein dickes Brett, das wir bohren.“
Ob Verdi noch die Kurve kriegt? Handelsexperten glauben, dass Amazon im Kräftemessen mit Amazon keine Chance hat. „Verdi beißt sich an Amazon wie an einer harten Nuss die Zähne aus. Sie sollten es einfach sein lassen mit den Streiks“, sagt etwa Gerrit Heinemann, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Niederrhein. Verdi dagegen gibt sich kämpferisch: „Wir haben noch Hoffnung, unsere Forderungen durchzusetzen.“[Jörn Perske]
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