In „Soul“ begibt sich das Pixar-Animationsstudio auf große Jenseitsreise. Ab heute ist der neue Film des „Alles steht Kopf“ – Schöpfers exklusiv bei Disney+ verfügbar und überrascht mit erstaunlicher Kreativität.
Für einen kurzen Moment scheint alles perfekt, bis das Grübeln einsetzt. Für einen kurzen Moment geht es bergauf im Leben des Musiklehrers und Jazzpianisten Joe Gardner, der die Chance erhält, seinen drögen Job gegen den Lebenstraum zu tauschen. Ein Auftritt mit der Jazz-Ikone Dorothea Williams! Und für einen kurzen Moment greifen alle Zahnräder perfekt ineinander, ergießt sich der oft beschworene Pixar-Zauber über das Publikum. Überschlagen sich die einzelnen Szenen in ihrer eigenen Energie, überwältigen die Animationen, das Timing der Gags, das Gefühlschaos. Bis der wörtliche Sturz folgt.
Joe Gardner fällt in seiner Euphorie in einen offenen Gully. Den Aufprall sehen wir schon gar nicht mehr. Stattdessen trennt sich in einem kongenialen Schnitt Gardners Seele vom Körper und stürzt ins Nichts. Nach diesem Prolog begibt sich „Soul“ in Terrain, das man im Kino in dieser Form noch nicht gesehen hat. Bei dem allerhand schiefgehen kann und schiefgehen wird, aber auch erstaunlich viele Zutaten eine vermeintlich perfekte Mischung ergeben. „Soul“ reist einmal vom Jenseits in eine Art Vor-seits, an dem Seelen geboren und ausgebildet werden.
Woher kommt unsere Persönlichkeit?
„Die Idee kam beim Betrachten meiner eigenen Kinder, die mit einer Ahnung auf die Welt kamen, wer sie sein würden“, erklärt Regisseur Pete Docter im Interview mit DIGITAL FERNSEHEN. „Ich fragte mich, woher kommt das eigentlich? Ich meine, offensichtlich von den Genen. Aber ich habe zwei Kinder und sie sind so verschieden. Also war die Idee, diesen Ort zu entwerfen, das ‚Great Before‘, der uns allen eine Persönlichkeit mit auf den Weg gibt, vielleicht ein paar Interessen, die dann irgendwann in unserem Leben aufkommen“, so Docter.
In seinem letzten, oscarprämierten Film „Alles steht Kopf“ war es noch die Gedanken- und Gefühlswelt eines jungen Mädchens, das visualisiert wurde. In „Soul“ hat sich Docter gemeinsam mit Co-Regisseur Kemp Powers an einen ähnlich abstrakten Stoff gewagt und forscht nach Charakter-Ursprüngen und Persönlichkeitsgeburt.
Dass allein die optische Ausgestaltung dieses Films vor Ideenreichtum und Kreativität nur so überschwappt, muss bei Pixars Animationsschmiede wahrscheinlich kaum noch erwähnt werden. Und doch beeindruckt „Soul“ gerade in den Szenen in der Menschenwelt auf der Erde mit einer Ahnung, was sich heute mit Animationstechnik anstellen lässt. Ob es Haare, Pflanzen, Musikinstrumente oder Kleidungsstücke sind – man glaubt, beinahe in den Bildschirm greifen und all diese Dinge berühren zu können, so detailreich und plastisch sind die Aufnahmen. „Soul“ ist technisch ein neues Referenzwerk für Disney/Pixar.
Weil es dabei nicht nur um blindem Fotorealismus geht, wie in dem missratenen „König der Löwen“-Remake der Fall, sondern weil diese Bilder gerade in ihrem Kontrast eine so beeindruckende Wirkung erzielen. Dem naturalistischen, greifbaren Abbild des New Yorker Großstadtlebens werden die abstrakten, flüchtigen Eindrücke der Seelenwelt entgegengesetzt. Mit fließenden Landschaften zwischen Surrealismus und Kubismus, verschwimmenden Linien und sich permanent im Wandel befindenden Strukturen. Bilder, die eigentlich auf die große Leinwand gehören. Aber nun gut, das Jahr 2020 sollte anders verlaufen.
Nicht alles läuft nach Plan.
In der Seelenwelt trifft Joe Gardner auf 22, eine Seele, die keine Lust auf das irdische Leben hat. Ihr „spark“, der die Lebensfreude entfacht, ist noch nicht gefunden. Die folgende Mission, dies zu beheben, erinnert zwar zunächst an modernen Selbstoptimierungswahn, doch die Mischung aus Esoterik, Metaphysik, Philosophie und Selbsthilferatgeber bleibt erstaunlich geerdet. Vor allem weil „Soul“ im letzten Moment das Ruder herumreißt und den Wert des Menschen und den Sinn des Lebens nicht anhand seines Nutzens ergründet.
Bemerkenswert ist darüber hinaus, wie gekonnt hier Story-Elemente ineinandergreifen. Die Pixar-Formel geht besser denn je auf, der Animationsfilm-Oscar 2021 sollte sicher sein! Mitunter hat man das Gefühl, drei verschiedene Filme in einem zu sehen, die Übergänge fließend. Eine Tatsache, die wohl auf Pete Docters Arbeitsweise zurückzuführen ist, folgt man den Erklärungen von Produzentin Dana Murray. „Bei seiner Art des Filmemachens lässt er einen Prozess zu, der es ihm erlaubt, zu suchen und viele verschiedene Wege zu verfolgen. Wir sagen manchmal, Pete macht keine Filme, sondern findet sie“, sagt sie gegenüber DIGITAL FERNSEHEN.
„Soul“ bedient bei diesem Prozess die ganze Gefühlspalette. Affektkino in Höchstform! Hier schließt sich der Kreis zurück zu „Alles steht Kopf“. Wie die kleinen Wesen in der Gedankenzentrale, so sitzen auch Pete Docter und Kemp Powers in unseren Köpfen und wissen, welche Knöpfe sie zu bedienen haben. Dass sich die Seelen im Film zur Einführung in einer Art Kino versammeln, ist kein Zufall. Auch uns will dieser Film ein Lehrstück sein. Das Disney- und Pixar-Kino ist längst selbst zu einer Art „You-Seminar“ geworden. Aber was gibt man uns dort mit auf den Weg?
Neue Lebensfreude?
Träume groß, glaube an dich und du kannst alles erreichen, haben gerade zahlreiche Disney-Streifen immer wieder vorgebetet. „Soul“ wagt eine Antithese. Was passiert, wenn dieser Traum vielleicht doch keine Erfüllung bringt? Ob mit dieser eher deprimierenden Erkenntnis nicht Not gegen Übel getauscht wurde, ist eine wichtige Frage. Nichtsdestotrotz ist es angenehm zu sehen, wie „Soul“ eine solch melancholische Ambivalenz in das Familienkino überführt. Auch deshalb, weil die emotionalen Kernszenen sitzen. Im Höhepunkt des Films rührt eine Montage, die vom einsamen Individuum über die Lichter der nächtlichen Stadt bis ins Universum führt, zu Tränen. Terrence Malick („The Tree of Life“) hätte es auch nicht besser zeigen können!
Bis zum bittersüßen Ende führt „Soul“ als verfilmte Midlife Crisis unter seiner kindlichen Aufbereitung zurück zu den eigenen Lebensentwürfen, dem Akzeptieren des Scheiterns und Schöpfen neuer Lebensfreude. Aber ist diese Botschaft, wenn die große Charakterwandlung erst einmal vollzogen ist, am Ende wirklich so originell und lobenswert?
Ein politischer Film
Ein wenig wird einem bange, wenn „Soul“ nach all den interessanten Ideen und emotionalen Einschlägen auf die Zielgerade zusteuert. Wie findet man einen passenden Deckel für alles? Tatsächlich bleibt nach einem sehenswerten Film ein fader Beigeschmack, den man bei all dem berechtigten Lob nicht ignorieren sollte. „Soul“ hüllt sein Publikum in Sentimentalität und suggeriert, der Wiedereintritt in den Alltag würde allein an persönlichen Befindlichkeiten und Charakterwandlungen hängen. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen. „Soul“ ist ein höchst politischer Film, auch wenn der Schlussakt davon kaum noch etwas wissen will.
„Soul“ handelt von Aufstiegsproblemen, von sozialer Benachteiligung und Bullshit-Jobs. Von fehlender Absicherung, die der Lehrerberuf in Joes Fall verspricht, aber zugleich auch das Aufgeben der Künstlerkarriere bedeutet. Abstiegsängste immer im Hinterkopf. Die Figuren im Film sind größtenteils Schwarze, die bekanntlich gerade auch in den USA in besonderem Maße von solchen Problemen und Ungleichheiten betroffen sind. Ein Fakt, den man im Jahr 2020 kaum ausblenden kann und sollte. Hautfarbe spielt in diesem Film sehr wohl eine Rolle, auch wenn sich viele Menschen in der Rezeption aktuell lieber an die universellen Gefühlsthemen des Films klammern und eine Diversität feiern, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber nicht mit bloßer Repräsentation abgefrühstückt werden kann.
Joes Mutter wünscht ihrem Sohn verzweifelt ein besseres Leben. Oder der Friseur des Jazzmusikers, der seinen Beruf ergriffen hat, weil die Kosten für die Veterinärschule zu hoch sind. Natürlich, auch solche Alternativen können Erfüllung bieten. Genau hier sollte man sich doch aber eigentlich zu einer großen Utopie zurücksehnen! Der Wunsch nach Verwirklichung des Lebenstraums war vielleicht doch nicht verkehrt. „Soul“ relativiert ihn. Sicher, das ganze Leben bedeutet ständiges Arrangieren. Mit völligem Opportunismus sollte es jedoch nicht verwechselt werden. Der Animationsstreifen ist reifer und komplexer als zahlreiche andere Disney/Pixar-Filme, hat ein offenes Ohr für wichtige Probleme und kehrt sie final doch in gewisser Weise unter den Teppich.
Zurück zum Alten
Gerade das Kino und ein so fantasievoller Film können ein Ort der Revolution sein. Die Draufsicht des Protagonisten auf sein eigenes Leben und deren Fallstricke erweckt doch diesen Wunsch nach Veränderung. Nun, am Ende nützt es alles nichts. „Soul“ bietet keine Visionen mehr, lediglich Trostpflaster. Neue Lebensfreude und ein Erfreuen an den kleinen Dingen des Lebens sollen darüber hinwegtrösten, dass es letztlich doch nur wieder zurück in die alte Welt geht. Status quo bleibt vorerst erhalten. Hoffentlich bleiben zumindest die Augen geöffnet! Immerhin ist „Soul“ so clever, einige Fragen in der Schwebe zu lassen.
Vielleicht hatte die „verirrte“ 22 Recht und die Welt ist wirklich dazu da, die Seele zu zerstören. Die Tragik von „Soul“ liegt nicht in den geplatzten Illusionen Joe Gardners. Sie liegt darin, dass scheinbar nichts anderes bleibt als Akzeptanz und Rückkehr in das alte System. Am Ende schließt sich der Kreis. Wieder ein Abstürzen. Dieses Mal nicht in den Tod, sondern das Leben. Von einem großartigen Film hinab zu einem vermeintlich befriedenden. Zu einem Beharren auf dem künftigen Genießen. Dort, wo eigentlich Tränen angebracht wären.
„Soul“ ist ab dem 25. Dezember 2020 bei Disney+ zum Streamen verfügbar.
Bildquelle:
- soul: Disney
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