Paolo Sorrentinos neuer Film „Die Hand Gottes“ feierte bei den Filmfestspielen von Venedig Premiere. Jetzt ist das beeindruckende Jugendportrait bei Netflix erschienen und doch ganz dem Kino verpflichtet.
Paolo Sorrentino hat seine Jugend verfilmt. Oder zumindest Teile davon, Gefühle, die er nun durch die Fiktionsschranken führt. Wer weiß schon so genau, was sich da wirklich in Neapel zugetragen hat? Obwohl bei solchen autobiographischen Nostalgie-Stücken selten interessantes Kino herauskommt, ist das Experiment in „Die Hand Gottes“ geglückt. Auch Sorrentinos sommerliches Drama braucht zwar eine ganze Weile, um zu seinem Kern vorzustoßen, entlohnt dafür aber mit mehreren faszinierenden und klugen Momenten.
Mit einer Fahrt über das Meer und die Stadt öffnet der „La Grande Belezza„- und „The Young Pope“-Regisseur seine persönliche Zeitkapsel, die in das Neapel der 1980er führt. Hier wächst Fabietto, gespielt von Filippo Scotti, bei seinen Eltern auf. Immer wieder kreuzen sich seine Wege mit skurriler Verwandtschaft und Bekanntschaft. Eine ganz besondere Beziehung pflegt der Junge zu Tante Patrizia, die den Männern nicht nur mit ihrem Körper den Kopf verdreht, sondern auch mit einem Erfahrungsbericht, der sie schließlich in eine psychiatrische Einrichtung bringen wird.
Mit der Tante beginnt dieser Film, wie ein Märchen entfaltet „Die Hand Gottes“ seine Welt. Da wartet Patrizia an einer Straße und wird in einem Auto mitgenommen. In einem prachtvollen Anwesen wird sie Teil eines obskuren Rituals, bei dem sie dem „kleinen Mönch“ begegnet. Endlich soll sie Kinder bekommen können. Die Irritation folgt auch erzählerisch: Um sie wird es im späteren Verlauf nämlich kaum noch gehen, auch wenn der Film den poetischen Wahrheitsgehalt ihres Erlebnisses in einer wunderbar magisch-realistischen Schlussklammer umarmt.
Sport und Gewalt
Sorrentinos Coming-of-Age-Drama setzt stattdessen voller Suchbewegungen ein. In gedehnten Einstellungen erforscht die Kamera ihren Kosmos. Ihr Blick bleibt mal an dieser, mal an jener Figur hängen. Wie Teile eines Familienfotos, die sich nach und nach zu einem Ganzen zusammensetzen. Bei einer großen Familienzusammenkunft liegen die Karten erstmals auf dem Tisch. Sorrentino zeigt das als Boulevardkomödie mit gelungenem Timing. Ein kauziger Charakter nach dem anderen wird da aufgefahren, politisch maximal unkorrekt, doch später erleben all diese dominanzkulturellen und altherrenhaften Witzchen ihre Kehrseite.
Dröge Schauspiele werden in der Gemeinschaft aufgeführt. Was eigentlich in einem brodelt, das spricht kaum jemand aus. Und wenn doch, dann entlädt es sich in Gewalt. Lachen über Oberflächen, um sein Inneres nicht zu offenbaren. In einer Szene wird die „böseste Frau Neapels“ zusammengeschlagen, während die Kamera auf einem Fußballspiel im Fernseher verharrt. Ein Moment, der fast als Referenz an Michael Hanekes legendären Skandal „Funny Games“ durchgehen könnte! Das Sportevent erscheint als einziger Kitt, in dem man noch so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl auszuleben scheint. Zugleich wird in ihm der primitive Kampf ausagiert, der den Alltag latent mitbestimmt. So altbekannt, so treffend bebildert.
Sorrentinos filmische Therapiestunde sucht vom Eigenen aus das Große. Man muss dafür weder mit dem Regisseur noch seinem bisherigen Werk vertraut sein. Ohnehin ist „Die Hand Gottes“ dann am uninteressantesten, wenn es explizit um das Filmemachen geht, wenn er sich allzu sehr an seinem Verständnis einer Kinopoesie und Schönheit ergötzt. Wie Sorrentino hinter die bürgerliche Fassade blickt, ist wesentlich aufregender. Auch wenn seine Figuren nicht erkennen wollen, was da lauert. Wie Fabietto der Blick auf die toten Eltern verwehrt wird, bleibt seinen Nahestehenden der Blick auf die Umstände verwehrt. Der soziale Umgang will es so.
Maradona kommt in die Stadt
Währenddessen dreht sich alles um König Fußball. Maradona soll nach Neapel kommen! Wo der Dunstkreis der Verwandtschaft und der vorgefundenen Verhältnisse die Luft abschnürt, klammert man sich an den Star, der den Aufstieg vorlebt. Im Fußball spiegelt sich zugleich die Tragödie. Die der Familie, um die es in Sorrentinos Film geht, und die der Gesellschaft, die plötzlich allen unterdrückten Emotionen freien Lauf lässt. Sorrentino fängt das alles erneut mit höchster Sinnlichkeit ein, so abgegriffen dieser Begriff bei den Arbeiten des italienischen Regisseurs inzwischen erscheinen mag: Landschaften, die Speisen, die Sonne, das Jugendzimmer, pompöse Gewölbe.
„Die Hand Gottes“ ist ein Film opulenter Bilder. Seine Welt ist in weite Winkel, in lange, gleitende Fahrten gebannt. Diese Aufnahmen suchen das Überdimensionierte der Leinwand und sprengen eigentlich das heimische Netflix-Format. Was sich zunächst nach altmeisterlichem Künstlergestus anfühlt, bekommt nach und nach eine konsequente Form. Sorrentinos Werk ist allein ästhetisch ein gelungener Gegenentwurf zu vielen zeitgenössischen Jugendfilmen, die sich mit Elend und Weltschmerz befassen und ihr Blickfeld klaustrophobisch verengen.
Trotz aller Tragik und Traurigkeit, die sich in diesem Familien-Epos entfalten wird: Seine Bilder versprechen noch Möglichkeiten. Da gibt es noch etwas zu entdecken und zu erleben. Die Kamera schreitet bei Sorrentino als Bewunderer durch die Welt, als Formgeber jugendlicher Faszination und Sinnsuche. Jedem Objekt und Subjekt kann noch ein Zauber entlockt werden. Sorrentino gelingt das mit Bravour.
„Die Hand Gottes“ ist ab dem 15. Dezember bei Netflix verfügbar und läuft parallel noch in ausgewählten deutschen Kinos.
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