„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ erscheint heute als neu adaptierte Amazon-Serie. Trotz lehrreicher Vorlage enttäuscht die Neuverfilmung von Christiane F’s Lebensgeschichte.
Christiane F. ist ein Name, der Bände erzählt. Das, wofür er steht, ist einerseits Pop-Kulturgut geworden, andererseits hat es eine Wunde in das Bewusstsein der spießbürgerlichen BRD gerissen. Wie geht das zusammen? Die Geschichte der damals minderjährigen Christiane, die im Berlin der 1970er Jahre in das Drogenmilieu abrutscht und auf dem Kinderstraßenstrich landet, wurde immer wieder als repräsentatives Generationen-Portrait rezipiert.
Wie Christiane F. erging es unzähligen Jugendlichen, die von der Erwachsenenwelt vergessen oder von ihrem Normierungs- und Disziplinierungswahn in der Arbeits- und Konsumgesellschaft überrollt wurde. Dieses beengende Gefühl der Umwelt zieht sich auch durch die aktuelle Serienverfilmung. Abtauchen in die Unterwelt, Drogen nehmen, gemeinsam im Rausch aus dem tristen Alltag heraustreten, bis nichts anderes mehr bleibt, außer Selbstzerstörung – „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sezierte die Kehrseite einer kapitalistischen Gesellschaft, die glaubte, mit sich selbst im Reinen zu sein.
Zugleich degradiert man das 1978 veröffentlichte Werk heute oft zum bloßen Präventivprogramm. Lesen als Schocktherapie; „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ wird immer noch in Schulen eingesetzt, um die Jugend zu erziehen und von Drogen fernzuhalten. Der Amazon-Serie droht sicher ein ähnliches Schicksal. Damit wird eine tiefere Systemanalyse gerne übergangen. Eine Gesellschaft, die solche Abstiege mitverursacht, wird da als gegeben gesetzt. Dämonisiert und zerredet wird vordergründig all das, was zu Rausch, Spiel und Ausbruch verführt. Dass sich diese Zustände natürlich unweigerlich in eine Katastrophe verkehren müssen, ihr Glück von kurzer Dauer ist und nur ein Übel gegen das andere tauschen, ist das Entsetzliche. Das Reizvolle an der Auseinandersetzung mit dem Werk sind aber eigentlich die Faktoren, die in jenen Teufelskreis erst hineintreiben.
Das Erfolgsgeheimnis
Der Schockeffekt dieser Geschichte war schon immer auch seine Attraktion, von der man sich von eigentlicher Ursachenforschung ablenken lässt. Insofern ist „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (gerade rezeptionsästhetisch) schon immer ein sehr interessantes, wenn auch literarisch nicht sonderlich aufregendes Werk gewesen.
Kinder, die der Versuchung erliegen und daran kaputtgehen, aber final ihr eigenes Elend erkennen müssen und zumindest nach einem kleinen Stück Perspektive und Normalität greifen, um vielleicht doch noch zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft (sprich: der Arbeitswelt) zu werden, das trifft bis heute einen Nerv. Das Erfolgsgeheimnis von „Bahnhof Zoo“ lag schon immer darin, dass es zwar auch ungeschönt in ein Milieu von Vergessenen blickt, aber in erster Linie als didaktische Warnung wie auch als abgründige Bildungs-Erzählung rezipiert werden konnte.
Vom Buch zum Film zur Serie
Bereits 1981 wurde Nachkriegsdeutschlands erfolgreichstes Sachbuch erfolgreich als Film adaptiert. Die neue Amazon-Serie hätte es in dieser Form eigentlich nicht gebraucht, außer natürlich zu dem Zweck, den Stoff im kollektiven Gedächtnis festzuhalten. Die 80er-Filmversion von Ulrich Edel ist bist heute sehenswert, gerade weil sie in den zwei Stunden so verdichtet war und erstaunlich wenig psychologisierte.
Gemäß zeitgenössischer Film- und Serienideologien hat man den Stoff nun jedoch auf acht Serienfolgen ausgewalzt. Mit unnötigem Anspruch, alles haarklein zeigen und ausformulieren zu müssen. Mehr Figuren, mehr Innenschau, Charakterdrama und Biographien, die man eigentlich nur benötigt, um Leben abzubilden, nicht aber um zu zeigen, wie dieser Teil von Leben im Kern für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ hat einen beachtlichen Produktionswert. So langsam gelingt es auch deutschen Serien in ihrer Aufmachung, auf dem internationalen Parkett keine schlechte Figur abzugeben, wie man hier sehen kann. Zudem präsentiert die Serie eine Riege an recht talentierten jungen Schauspielerinnen und Schauspielern, allen voran die neue Christiane-Darstellerin Jana McKinnon. Alles schön und gut, aber dennoch schafft es die Amazon-Serie kaum, das Interesse über drei Folgen hinaus zu halten. Dabei fängt an diesem Punkt Christianes Fall erst so richtig an.
Zu harmlose Inszenierung
Acht Folgen zu je ungefähr 50 Minuten sind eine zu lange Laufzeit für zu viel Bekanntes. Selbst dann, wenn man mit der Geschichte noch nicht vertraut ist, gibt es nur wenige Gründe, nicht stattdessen noch einmal die erste Verfilmung aus den 80ern ins Visier zu nehmen, die zeitgleich mit der Serie ebenfalls bei Prime Video erscheint. Ulrich Edels Verfilmung war eine der Orte. Ihre Bilder von der Berliner Betonhölle, den schmierigen Bahnhöfen, Gassen und siffigen Toiletten wussten mehr zu erzählen als jeder Dialog.
Zudem war es auch ein Film der markierten Körper. Edel hat sich nicht gescheut, den physischen Zerfall seiner Figuren mit äußerster Drastik einzufangen. Genau diese Drastik und Rohheit, der Blick für das Wahrhaftige und Leibliche fehlt der Neuauflage. In der 2021er Version von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sieht alles künstlich aus. Hinter Berlin tauchen die Berge als Sehnsuchtsort auf. Räume verwandeln sich. Während einer Party erheben sich die Tanzenden schwerelos gen Decke. Toll, man kennt solche Szenen etwa aus dem Elton-John-Biopic „Rocketman“. In der Welt von Christiane F. haben sie eigentlich nichts verloren.
Das deutsche „Euphoria“?
Die Serie erinnert ästhetisch stark an den hyperstilisierten HBO-Erfolgshit „Euphoria„. Auch da ließ man jugendlichem Weltschmerz freien Lauf und erzählte auf (noch viel freizügigere Weise) vom Absturz einer jungen Generation. Auch wenn man „Euphoria“ keinesfalls verklären sollte: Dort wirkte immerhin eine solche Ästhetik durchaus adäquat zu der digitalisierten Social-Media-Welt, die man offenlegte.
Bei „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ wirkt das allzu formalistisch selbstzweckhaft, das moderne, aktualisierte Erscheinungsbild wie eine Maske. Zumal eine vergleichbar gegenwärtige Auseinandersetzung mit Fragen nach Sucht, Perspektivlosigkeit, aber auch Sexualität, Vernetzung und Repräsentation, wie es sie in „Euphoria“ gibt, hier in keiner vergleichbaren Weise stattfindet.
Wie ein Musikvideo
Laut Produzent Oliver Berben sei die Intention gewesen, den zeitlosen Aspekt der Geschichte und die große Aktualität hervorzuheben. So spielt die Serie zwar irgendwie in der Vergangenheit, ist aber dennoch als Anachronismus mit Digital- und Neonlook aus dem 21. Jahrhundert aufgefrischt, inklusive zeitgenössischer Musik, die gar nicht mehr aufhören will. Das wirkt am Anfang noch frisch und flott; wenn sich Christiane zu Sia’s „Chandelier“ (mit Piano!) den ersten Schuss setzt, wird es schon arg plakativ. In den letzten Folgen vergeht schließlich gefühlt kaum noch eine Minute, in der nicht zu sentimentalen Balladen leidende Gesichter montiert werden. Ohne solchen Kitsch traut man dem Publikum nicht mehr zu, Empathie zu entwickeln.
Das große Problem dieser durchaus ambitionierten Serie liegt schlichtweg darin, dass sie in ihrem Aktualitäts-Glaube und mit Streaming-Sehgewohnheiten im Hinterkopf versucht, etwas konsumierbar zu machen, was eigentlich nicht konsumierbar gemacht werden sollte. Selbst in den schlimmsten Absturz-Szenen wirkt hier alles noch zu brav und ansehnlich. Alles an der Grenze zur Verharmlosung.
Portrait der Gegenwart?
Das Projekt irrt, wenn es denkt, die Geschichte wäre einfach genau so auf heutige Jugendgesinnungen übertragbar. Da mag es auf jeden Fall Schnittstellen geben, letztendlich basiert diese Übertragung in ihrer Umsetzung aber zunächst auf einem bloßen „Drogen sind böse“-Mantra und einem Pochen auf die elterliche Fürsorge. Zu viele neue Umstände sind ausgeblendet. Selbst die gesellschaftlichen Konstellationen innerhalb der Handlung werden zwar in Fülle über dem Publikum ausgeschüttet, ein erhellendes Konzentrat tritt daraus kaum hervor.
Dass die deutsche Serienkultur für ihr eigenes „Euphoria“ wieder nur in der Vergangenheit gräbt und kaum neue Erkenntnisse daraus zu ziehen weiß, scheint leider bezeichnend. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist zweifellos aufwendiges, nett anzusehendes und schnell verdautes Recycling. Die letztgenannten Komponenten sind leider genau das, was dieser Stoff am wenigsten verträgt.
Die achtteilige Serienadaption „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von Constantin Television und Amazon Studios startet am 19. Februar exklusiv bei Amazon Prime Video in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Über „Bild“ fand bereits einen Tag zuvor eine Online-Premiere statt.
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Bildquelle:
- bahnhofzoo: Amazon Prime Video/ Constantin Television