Auch wenn die deutsche Serie „Der Greif“ wohl kein mit „Stranger Things“ vergleichbarer Welthit werden wird, macht die auf Retro gebürstete Fantasy-Verfilmung sogar Dinge besser als der Netflix-Dauerbrenner.
Der düstere Fantasy-Thriller „Der Greif“ von Wolfgang und Heike Hohlbein schlug in den neunziger Jahren zahlreiche Jugendliche in seinen Bann und prägte mit seiner atemlosen Jagd zwischen Wahn und Wirklichkeit das popkulturelle Gedächtnis der Zielgruppe mit. Nun hat Amazon den deutschen Bestseller für seinen Streamingdienst Prime Video als Serie aufgelegt.
Obwohl sich die Serienmacher bei der Umsetzung von „Hohlbeins Der Greif“ viele Freiheiten gelassen haben, bleibt die Grundstimmung der literarischen Vorlage erhalten und so ist unterm Strich dabei ein erfreuliches Produkt entstanden, das den Drahtseilakt zwischen deutscher TV-Piefigkeit mit Armind Rohde und „Buffy“-esker High-School-Seifenoper ordentlich besteht und Lust auf mehr macht.
„Der Greif“ als deutsches „Stranger Things“: Neunziger-Nostalgie für die Zielgruppe
Nachdem der Netflix-Hit „Stranger Things“ eine Welle der Eighties-Nostalgie losgetreten hat, zielt „Der Greif“ auf die Neunziger-Erinnerungen der Leserschaft von Hohlbeins Fantasy-Roman ab und erinnert dabei, ob freiwillig oder unabsichtlich, treffsicher an die mittlerweile romantisch überhöhten, über weite strecken hölzern geschauspielerten Film und TV-Produktionen aus dem Deutschland eben jener Zeit.
Vom Vokuhila-Teenie Memo bis zum coolen Bruder mit dem Quarterback-Scheitel setzt bereits die erste Folge von „Der Greif“ nostalgische Marker im hochroten Bereich und holt damit sicherlich einen großen Teil der Milennials ab, die damals Hohlbein mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen haben. Die Dialogzeilen sind dabei in bester deutscher Manier steif wie ein Gipsbein, doch das gehört dann wohl eben auch mit dazu.
Klassische Filmsets und Masken statt CGI-Orgien
Doch wie in „Stranger Things“ gibt es dann auch eben die andere Seite: Wo die Kinder-Clique bei Netflix mit Dämonen aus einer düsteren Paralleldimension zu kämpfen haben, schickt „Der Greif“ seine jungen Protagonisten ebenfalls auf eine Reise in ein phantastisches Reich, das von Gruselgestalten bewohnt wird – den „Schwarzen Turm“.
Hier vermeidet die Hohlbein-Verfilmung aber gerade im Rahmen seines Retro-Bekenntnisses aber einen großen Fehler, der „Stranger Things“ stellenweise richtiggehend unerträglich werden ließ: Statt der CGI-Effektorgie des „Upside Downs“ ist der schwarze Turm vielmehr eine surreale Mischung aus Außenszenerien und klassischen Filmsets und passt damit viel besser in die Zeit, in die das Geschehen eingeordnet wird. Damit kommen mehr Erinnerungen an phantasievoll gestaltete Abenteuerfilme wie „Die Reise ins Labyrinth“ auf als das Gefühl, in einem sehr schlechten Videospiel gelandet zu sein.
Bekommt „Der Greif“ eine zweite Staffel?
Während „Der Greif“ handwerklich durchaus zu überzeugen weiß, verläuft die Handlung auch angesichts der Verstrickung in zahllose Seitenstränge mit vielen Zusatzfiguren eher langsam. Das wäre wohl kaum nötig gewesen, um die Geschichte aus dem hohlbeinschen Fantasy-Kosmos geradlinig zu erzählen – man tritt hier wohl bewusst auf die Bremse und verlagert den größten Teil des Abenteuers im schwarzen Turm auf Staffel 2 von „Der Greif“.
Wer sich darüber nun ärgert, wird wahrscheinlich mit den meisten zeitgenössischen Serienproduktionen im Clinch liegen. Letztere setzen mittlerweile auf einen langen Spannungsbogen in der Rahmehandlung und legen sich so gerne auf mehrere Staffeln aus, wo für die Grundgeschichte wohl eine Miniserie ausgereicht hätte. Ob „Der Greif“ tatsächlich eine zweite Staffel bekommt, ist derzeit nicht bekannt und wohl zunächst von der Rezeption der ersten 6 Folgen abhängig. Denn auch wenn Amazon seinen epochalen Fehlschlag „Die Ringe der Macht“ trotz vernichtender Kritik fortsetzt, dürfte es lange nicht allen Serien so gehen, die unter den Erwartungen bleiben. Der sündhaft teure „Dark“-Nachfolger „1899“ bei Netflix dient hier als mahnendes Beispiel. „Der Greif“ darf sich jedoch durchaus Hoffnung auf Staffel 2 machen – denn die Serie ist, insbesondere für deutsche Verhältnisse, erfreulich gut.