„Das Neue Evangelium“ jetzt als Stream: Milo Raus radikales Jesus-Experiment

Eine Kritik von Janick Nolting

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© Fruitmarket/ Langfilm/ IIPM/ Armin Smailovic

In „Das Neue Evangelium“ holt Regie-Provokateur Milo Rau Jesus als Widerstandskämpfer in die Gegenwart. Ab heute ist das radikale Filmexperiment nach dem abgesagten Kinostart direkt als Stream erhältlich.

Auf den Hügeln vor der italienischen Stadt Matera sind Löcher ausgehoben, in denen einst Kreuze standen. Jesus hat man an diesem Ort schon zwei Mal ans Kreuz geschlagen. Und es wird ein drittes Mal passieren. In Matera drehten eins Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Passionsspiele über die letzten Stunden Jesu Christi. Beide nahezu beschwörend in ihrer Rekonstruktion der überlieferten Geschichte. Regisseur Milo Rau folgt ihnen nach, wählt aber einen völlig anderen Ansatz.

Verismus, wirklichkeitsgetreues Abbilden, Nachspielen, das interessiert in seinem „Neuen Evangelium“ kaum. Um das ‚Wie‘ soll es gehen. Fertige Bilder und Eindrücke, Illusionen, Zeitreisen, Kino als lebendiges Museum, all das gibt es in Raus Vision gar nicht oder aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Sein Film ist vielmehr Neubefragung. Nicht nur der beiden Werke, „Das 1. Evangelium – Matthäus“ und „Die Passion Christi“, die in Matera entstanden sind, sondern auch des Stoffes an sich und des Mediums selbst.

Anknüpfen an alte Traditionen

Wenn es in „Das Neue Evangelium“ um ein Nach- und Durchspielen der biblischen Stationen geht, dann ist es ein Spiel, das sich selbst erforscht. Wenn es darum geht, das historische Moment auf der Leinwand wiederaufleben zu lassen, dann sind das Bilder, die in sich selbst zusammenstürzen. Die gar kein Einsaugen, keine Illusion mehr zulassen, weil sie in ihrer Entstehung offenliegen. Ein Neuanfang muss her. Milo Rau zeigt das Prozesshafte, sein Film befindet sich selbst permanent im Entstehen, im Verändern, im Zusammensetzen. In dieser Hinsicht knüpft der häufig umstrittene Regisseur an seine bisherigen Arbeiten an. Bibelzitate tönen im Voice-Over, mehr fragend als verkündend.

Man kennt dieses Offenlegen von Spiel und Produktion bereits aus Milo Raus Theaterarbeiten. Aus den „Five Easy Peaces“ oder den „120 Tagen von Sodom“ etwa, zwei seiner kontroversesten Inszenierungen. In dem einen proben Kinder für ein Stück, das die Taten des belgischen Kindermörders Dutroux rekonstruiert. In dem anderen lässt er behinderte Darsteller der Theatergruppe Hora Pasolinis berühmten Skandalfilm auf der Bühne nachstellen. Für das Kino folgte beispielsweise „Das Kongo-Tribunal“, ein Film, der ein Tribunal zur verspäteten Aufarbeitung der Verbrechen im Kongokrieg begleitet.

Das Ende des Kinos?

Alles Werke, in denen Vergangenes in die Gegenwart strahlt und umgekehrt. In denen Dokumentarisches mit den Mitteln der Kunst verfremdet und zugleich vergrößert wird, während diese Kunst sich in ihrer eigenen Funktions- und Wirkweise hinterfragt. Die Frage der Darstellbarkeit und Erfahrung stellte sich dazu immer wieder. Rau stellt sie auch in seinem neuen Jesus-Film. In einem Hybriden aus Dokumentar-, Spielfilm, Performance und Essay.

Der Schweizer weigert sich mit „Das Neue Evangelium“, eine klassische Bibeladaption zu drehen. Und tatsächlich: Wenn es dann doch einmal in die Spielszenen geht, und das betrifft vor allem das letzte Drittel des Films, dann ist das völlig unterkühlt, künstlich, wie ein Fremdkörper, von Bombast befreit. Eine filmische Antithese.

Aber nicht umsonst: Große, übersinnliche Wunder und dergleichen kann es in Milo Raus Filmwelt kaum noch geben. Was soll es überhaupt auslösen, wenn die immer gleichen Bilder erzeugt werden? Was erhoffen wir uns vom Nachspielen? Ist nicht viel spannender, was passiert, wenn man einmal nach dem ‚Warum‘ des Ganzen fragt?

© Fruitmarket/ Langfilm/ IIPM/ Armin Smailovic

Die Passion im 21. Jahrhundert

In einer der markantesten Szenen probt ein Mann seine Rolle als Folterer, der Jesus auspeitschen wird. Sein Opfer zunächst nur ein Plastikstuhl, den er wie ein Raubtier umkreist, bis er wie irre auf ihn eindrischt. Genau in solchen Momenten erweist sich Rau auch in diesem Projekt als gekonnter Beobachter. Wenn sich Spiel und realer Affekt vereinen, wenn das Simulieren mit einem echten (?) Gewalttrieb Hand in Hand geht, der plötzlich hervorzubrechen scheint.

Nicht zuletzt war das Passionsspiel seit dem Mittelalter schon immer auch symbolisches Opferritual, in dem man Gewaltakte mit nahezu sadistischer und eigentlich höchst unheiliger Freude aufführte, um schließlich reingewaschen und mit einem reaktivierten Ursprungsmythos in die zivilisierte Ordnung zurückzukehren.

Bei Rau ist dieses Rückkehren gar nicht möglich. „Das Neue Evangelium“ ist ein Werk, das nicht nur filmische und theatrale Inszenierungs- und Schauspielpraktiken immer wieder sprengt. Es ist auch eines, das in seiner Gestaltung so offen ist und so wenig Orientierung bietet, dass es nur in der Realität zu einem Abschluss gebracht werden kann. Hier wird Jesus lebend vom Kreuz genommen. Drehtag vorbei. Was nun?

Eine Revolution

Diesen ursprünglichen Mythos, den Märtyrertod Jesu, zu verfilmen, ist für Rau als Prozess ein großes Politikum. Sein Jesus ist ein schwarzer Menschenrechtsaktivist, Yvan Sagnet. Wieder muss ein Einzelner erscheinen, um als Vorreiter zu kämpfen. Der Regisseur begleitet seinen Jesus in ein Flüchtlingslager vor Matera, wo Menschen unter widrigsten Umständen leben und für die Arbeit auf den Tomatenfeldern regelrecht versklavt werden. Hier soll eine neue Revolution losbrechen. Wer spielt, wer repräsentiert, was macht das mit dieser Person, darum ging es immer wieder in Raus Arbeiten.

So auch hier. Sein Jesus wird irgendwann mit den neuen Jüngern in die Markthalle stürmen und die korrupten Geschäfte anprangern. Im „Neuen Evangelium“ werden die Tomaten wütend auf dem Supermarktboden zertreten, Ketchupflaschen ausgeschüttet. Und auch Raus Jesus bleibt nur der (gespielte) Märtyrertod. Ein Aktivist der zur Figur wird? Oder ist allein das Schauspiel bereits Aktivismus?

Milo Raus Film überfordert mit seinen zahllosen Ebenen, weil es Vertrautes mit großen Fragezeichen versieht. Irgendwann ist es fast spannender, diese Schichten zu durchdenken als ihnen am Bildschirm beizuwohnen, die Karten liegen schnell auf dem Tisch. Raus Werke waren schon immer Konzeptkunst, deren Umsetzung sich nur vage an ihren Kern herantasten kann. Genau so verhält es sich auch mit dem „Neuen Evangelium“.

© Fruitmarket/ Langfilm/ IIPM/ Armin Smailovic

Künstlerischer Größenwahn?

Man darf durchaus fragen, ob der künstlerische Größenwahn Raus in diesem antikapitalistischen Pamphlet mit all seinen sich überlagernden Fragen und Themen nicht weit über sein Können als Filmschaffender hinausragt. Und doch ist es erneut ein eindrückliches Erlebnis, sich in dieses Nachdenken hineinzustürzen. Weil es nur wenige gegenwärtige Regisseure gibt, die es verstehen, im gleichen Moment Kunstform und Rezeption so bröckeln zu lassen und doch so stark an ihre zeitlose Kraft zu glauben.

„Das Neue Evangelium“ ist nicht nur das Dokument eines politischen Aufbegehrens, sondern auch einer Form, die aus sich selbst auszubrechen versucht. Die ihr Schaffen aus dem Studio raus auf die Straße und in den Alltag trägt. Ein wütendes Beharren auf der politischen Kraft des Spielens und Inszenierens, auch wenn man vor einem künstlerischen Trümmerhaufen steht.

Maia Morgenstern, die Gottesmutter aus Mel Gibsons Film, und Enrique Irazoqui, Pasolinis Jesus-Darsteller, wuseln durch den Film und machen den Weg frei für eine neue Generation. Womöglich auch ein Befreien von einer Verklärung. Das Kino kann vielleicht noch immer etwas bewegen, auch wenn das Schöne, das Imposante und Magische längst abhandengekommen sind. Die archaischen Kulissen und Ruinen der Stadt Matera, vor denen das Passionsspiel heute stattfindet, wurden längst von neuen, zerfallenen Ruinen abgelöst. Denen der maroden Lager-Unterkünfte. Und den gesellschaftlichen.   

„Das Neue Evangelium“ ist ab dem 17. Dezember 2020 als Stream erhältlich. Beim Ticketkauf wählt man ein Kino in Deutschland aus, das 30% des Preises erhält. Zugleich erwirbt man ein Q&A mit Hauptdarsteller und Regisseur als Extra. Ein digitales Ticket kostet 9,99 Euro. Weitere Infos und die Möglichkeit des Ticketkaufs gibt es auf der offiziellen Website.

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