„Days“ steuert auf die beste Erotikszene der vergangenen Jahre zu. Seine Weltpremiere feierte das taiwanische Drama bei der Berlinale, ab heute kann der Film in der Arte Mediathek gestreamt werden.
Die Filme des Regisseurs Tsai Ming-liang muten zunächst wie eine Herausforderung an. In nur wenigen, ewig langen Einstellungen gedreht, kaum Schnitte, stilles Beobachten. Die Handlung meist stark reduziert. Mit seiner Interpretation eines slow cinema hat der Filmemacher („Stray Dogs“, „Der Fluss“)weltweit für Aufsehen gesorgt. In der Vergangenheit gewann er etwa den Goldenen Löwen und den Großen Preis der Jury in Venedig sowie einen Silbernen Bären in Berlin.
Sein neuester Film „Days“ wirkt fast wie eine Zuspitzung seines bisherigen Schaffens. Auf Dialoge hat der chinesisch-malaysische Regisseur mal wieder ganz verzichtet. Die wenigen, die gesprochen werden, finden so weit entfernt statt, dass man sie kaum verstehen kann. Untertitelt sind sie bewusst nicht, wie es direkt zu Beginn des Films heißt. Das Drama, das sich hier abspielt, braucht keine gesprochenen Worte.
Zwischen Doku und Spielfilm
Meisterhaft lässt Tsai Ming-liang in „Days“ Fiktion und Wirklichkeit kollidieren. Sein langjähriger Darsteller Lee Kang-Sheng ist wieder mit dabei. Ein Mann, der krankheitsbedingt dauernd an körperlichen Schmerzen leidet. Auf der anderen Seite der junge Migrant Anong Houngheuangsy, den der Regisseur in einen Nudelimbiss getroffen haben soll. „Days“ beobachtet die trostlose Alltagsroutine der beiden. Was Rolle, was reales Leben ist, verschwimmt.
In der ersten Einstellung sieht man Lee Kang-Sheng, wie er einfach minutenlang regunglos aus dem Fenster blickt. Später begleitet der Film ihn zu einer Schmerzbehandlung nebst (echter?) Verbrennung. Anong, „Non“ genannt, bewirtschaftet die meiste Zeit des Films seinen Haushalt und bereitet Speisen zu. Bis sich beide Männer zu einer sexuellen Begegnung treffen und anschließend wieder in ihre eigene Welt zurückkehren müssen. So weit, so schlicht die Handlung.
Massage mit Happy End
Natürlich wirkt das wie ein Kraftakt, sich dieser reduzierten Handlung auszusetzen. Und doch sollte man vor dem meditativen Erzählfluss nicht zurückschrecken. „Days“ erzählt ohne Worte in seinen zwei Stunden mehr als so manch anderes Werk. Tsai Ming-liangs Film ist eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit Oben und Unten. Mit zwei Lebensrealitäten, die sich niemals angleichen können und die doch von der gleichen Einsamkeit und Sehnsucht durchzogen sind.
Die Massage- und Sexszene, auf die der Film hinsteuert, ist ein so eskapistisches Moment, so zärtlich und authentisch dargestellt: Eine vergleichbare Liebesszene gab es seit Jahren nicht in einem Film zu erleben. Bis schließlich wieder der harte Alltag, die Realität der gesellschaftlichen Klasse zuschlägt. Eine kleine Spieluhr wird hier weitergereicht. Sie spielt zum Schluss die Melodie einer Sehnsucht auf ein besseres Leben. Wie sich der Körper wehrt, sich auf diesen filmischen Stillstand einzulassen, will man sich am Ende von dieser Welt kaum trennen.
Film über Körper und Räume
Als „Choreographie der Gesten und Körper im Rhythmus des städtischen Lebens“ bezeichnet Arte den Film. Es ist auch ein Film der Räume, die mit äußerster Präzision Milieus abzubilden wissen. Einer der verlassenen Orte, in dem nur Umgebungsgeräusche die musikalische Untermalung liefern. Selbst dann, wenn Menschen bereits aus dem Bild getreteten sind, lässt Tsai Ming-liang die Kamera noch minutenlang stehen. Verfolgt das Nachpendeln einer Drehtür, wartet, bis das Licht im Hotelzimmer irgendwann automatisch erlischt. Erklärungen und Deutungen verlieren sich bewusst in filmischen Leerstellen.
„Days“ ist ein gespenstischer Film. Ein ebenso schlichtes wie bildgewaltiges Drama über kaum zu überwindende Klassenunterschiede, das einen in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen kann. In dem die Trauer über das gestörte menschliche Zusammenleben so aussichtslos ist, dass es schon gar nichts mehr zu sagen gibt. Was ist aus uns geworden, will man zum Schluss fragen. Vielleicht hat ja selbst das Kino versagt, diese Welt noch adäquat abbilden zu können? Die Melancholie dieses Films schlägt noch lange zu, nachdem er vorbei ist. Dass die Jury das mit keinem Preis zu würdigen wusste, ist die wohl größte Ernüchterung der diesjährigen Berlinale. „Days“ ist ein Film, aus dem man verändert hervorgeht.
Vom 24. August bis zum 30. Oktober kann „Days“ in der Arte-Mediathek gestreamt werden. Der Kultursender zeigt den Film darüber hinaus am 31. August auch im linearen TV-Programm um 23.55 Uhr.
Bildquelle:
- days: Homegreen Films