In seinem prominent besetzten Drama „Zeiten des Umbruchs“ erzählt der Autorenfilmer James Gray von den Verlogenheiten und platzenden Träumen der 1980er-Jahre.
„Willkommen am ersten Tag vom Rest deines Lebens!“, sagt der Vater noch spöttisch, bevor sein Sprössling auf die neue Eliteschule verfrachtet wird. Gezwängt in eine Uniform und die Tristesse der Durchschnittlichkeit. Bloß nicht auffallen, Karriere machen, das Aufstiegsversprechen leben, Tüchtigkeit, so lauten die Maximen. Vergangene Traumata, die in der Geschichte der jüdischen Auswandererfamilie Graff verankert sind, werden zwar gedenkend, mahnend heraufbeschworen, aber zugleich absorbiert vom behüteten Wohlstand und der Anpassung an dominanzkulturelle Strukturen. Während der Kalte Krieg brodelt, zieht man sich in mehrheitliche Normen zurück.
Das Weiterziehen, Weiterarbeiten, um es in Zukunft einmal besser als die Vorfahren zu haben, bestimmt den Alltag als Leistungsprinzip. Doch Paul, der Sohn (Banks Repeta), hat andere Pläne: Er will Künstler, Freigeist werden. Den ehrgeizigen Eltern (Anne Hathaway und Jeremy Strong) sind solche Flausen natürlich ein Dorn im Auge. Ermutigende Worte kommen nur von Großvater Aaron (Anthony Hopkins) an dessen letzten Lebenstagen.
Dahinsterbende Träume gibt es in James Grays neuem Film zu erleben. Sie gehen mit schleichender wie unerbittlicher Melancholie zu Grunde. Die „Zeiten des Umbruchs“ sind angebrochen. Sie vergehen auf der Leinwand als retrospektive Wende für die Gegenwart. Gray ist ein Regisseur, der sich mit Werken wie „The Immigrant“ oder zuletzt „Ad Astra“ fortwährend mit migrantischen Erfahrungen, sozialer Ausgrenzung, familiären Beziehungen befasst hat, wandelnd zwischen dem Gestern, Heute und Morgen. „Zeiten des Umbruchs“ fügt sich nicht nur passend in diese Erkundungen ein, es ist zweifellos einer seiner bislang reifsten Filme.
„Zeiten des Umbruchs“ ist mehr als reines Zeitkolorit
Das New Yorker Viertel Queens im Jahr 1980 ist hier Schauplatz jugendlicher Desillusionierung. Bevor Paul auf seine neue Schule geschickt wird, kommt es zum Eklat. Mit einem jungen Afroamerikaner namens Johnny (Jaylin Webb) hat er sich angefreundet, heimlich einen Joint geraucht. Mutter ist sauer, Vater wird handgreiflich. Brüllend geht er auf seinen Sohn los. Eine heftige Zäsur! Mit einem Mal ist der Staub von all dem museal ausstaffierten Zeitkolorit gepustet.
Das autobiographische Erinnerungsstück von Regisseur Gray befreit sich mit diesem Schockmoment von bloßen Schulterblicken. Es beginnt zu überlegen, zu sprechen, zu leben, sich thematisch aus dem hermetischen Historiengewand herauszukämpfen. Es schaut auf andauernde gesellschaftliche Mechanismen und Ideologien. Gray dreht konservative, formal geschlossene Hollywood-Filme. Sie ergötzen sich an ihrer Technik, der überhöhten Authentizität und Akribie ihrer geschaffenen Bilder und Wirklichkeiten. Und doch ist „Zeiten des Umbruchs“ kein konservativer Film. Er verzahnt auf kluge, kritische Weise identitätspolitische Konflikte mit den Wirtschaftsversprechen und (Doppel-)Moralvorstellungen seiner Epoche, fernab irgendwelcher nostalgischer Verklärungen.
Der brutale Alltagsrassismus, den er abbildet, wird als Versatzstück des gepredigten Aufstiegsideals entlarvt. Die Anderen, das sind die Untätigen, Kriminellen, die hoffnungslosen Fälle. Die, mit denen man sich besser gar nicht erst abgibt, will man selbst nicht auf die schiefe Bahn geraten. Ungeachtet der gesellschaftlichen Schräglägen, der ungebremsten sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die sich solche Prozesse des Stigmatisierens, Ausgrenzens, Vorverurteilens und rassistischen Herabwürdigens schaffen, um die eigenen Weltbilder zu festigen.
Das Aushalten lernen
Paul und Johnny, das sind zwei, die noch vom Davonlaufen träumen, um dem gesellschaftlichen Druck zu entkommen. Es ist grausam, wie wir ihnen beim Scheitern zusehen müssen. „Zeiten des Umbruchs“ erzählt vom Austreiben der Utopien, erstickt und aufgefressen von der sogenannten Normalität. Gray kann keinen Optimismus inszenieren, weil er die Geschichtsbücher weitergelesen hat, weil er um seine gegenwärtige Position weiß. Individuelles Leistungsdenken schafft sich Hierarchien, es wird auf den Köpfen anderer ausgetragen, das führt sein Film konsequent vor. Konkurrenzdenken und Disziplinierungspraktiken als bürgerlicher Überlebenskampf.
Und die Elterngeneration macht sich schuldig, indem sie schweigend Nebenwirkungen duldet, die Füße stillhält, ihre Kinder den vorgefertigten Bahnen zum Fraße vorwirft. Die eigene Unzufriedenheit und Marginalisierung wird in Bestrafungen und Beschönigungen versteckt. Umso brutaler erscheint ein Moment der Zuneigung: Einmal solidarisiert sich Pauls Vater mit dessen Enttäuschungen. Unrecht, Ja, da ist man sich sogar einig, aber so ist nun einmal der Lauf der Dinge, das bekommt der Elfjährige sinngemäß im Auto zu hören. Es ertragen, Missstände aushalten – grässlich tiefblickende Ratschläge sind das, um in gesellschaftlichem Stillstand bestehen zu können.
Donald Trumps Familie tritt auf
In der Schule agiert bereits die Sippe Trump und erzählt etwas von Anstrengung und Verdienst. Die Präsidentschaftswahl Ronald Reagans steht an. Neoliberale Gedanken werden gesät, hier wie dort. Welche Hirngespinste, kühlen Verdrängungen und Realitätsleugnungen ihnen zugrunde liegen, kann man eindrucksvoll in diesem sehenswerten Zweistünder erleben. Privilegien stehen auf dem Prüfstand. Und überall ertönt aus dem Heute westlicher Industrienationen ein Echo. Es sollte vor sich selbst erschrecken. Der American Way of Life kennt hier keine Subversionen mehr, er ist gefangen in seiner erstarrten Regungslosigkeit, seinem verblendeten Opportunismus.
Eine berechtigte Wut schlummert in James Grays unaufgeregtem und unsentimentalem Sittengemälde. In einem meisterhaften Ausklang lässt es Wunsch und Realität kollidieren. Eine Kamera bewegt sich durch Räume des Alltäglichen, zieht sich zurück, Zuggeräusche sind zu vernehmen. Doch der Zug in Richtung einer Alternative bleibt imaginär. Ein unsichtbares Rattern in der Ferne, verflüchtigt in dem, was die Bilder nicht mehr zeigen können.
„Zeiten des Umbruchs“ läuft im Verleih von Universal Pictures seit dem 24. November 2022 in den deutschen Kinos. Die vorherigen Filme „Ad Astra“ und „Die versunkene Stadt Z“ von James Gray sind aktuell etwa bei Prime Video zu sehen.
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