In seinem neuen Drama „Rimini“ erzählt Skandalregisseur Ulrich Seidl auf eindrucksvolle Weise von den Lebenslügen und gescheiterten Illusionen eines alternden Schlagersängers.
Ulrich Seidl liefert Kontroversen auf Bestellung, Gesprächsbedarf ist bei ihm gewiss. In seiner langjährigen Karriere hat das österreichische Enfant Terrible schließlich immer wieder das Perverse unter der bürgerlichen Fassade hervorgekehrt, sei es die verquere Liebe zu Haustieren („Tierische Liebe“), Sextourismus im Ausland („Paradies: Liebe“) oder ein Blick in die Keller der Nation („Im Keller“). Auch sein neuestes Werk „Rimini“ provoziert mit gnadenloser Ehrlichkeit — Es ist eines seiner besten. Im Wettbewerb der 72. Berlinale, in dem der Film auch seine Premiere feierte, ragt er gegenüber seinen bisherigen Mitstreitern deutlich heraus. Generell scheint an diesem Brocken bei den Festspielen niemand vorbeizukommen. Andauernd hört man, wie Menschen sich über ihn austauschen, weil das noch einer ist, der das Unbequeme, Spröde, auch das Böse sucht und findet.
Wieder verunsichern vor allem die ungeschönten Blicke auf Körper, die keinen Schönheitsidealen entsprechen wollen. Immer an der Grenze zwischen ausbeuterischem Schockeffekt und nüchterner Realitätsbetrachtung. Sex und Tod, die beiden größten Themen des Lebens, dienen Seidl in diesem neuen Film als Grundkonstanten. Beide kreuzen sich in bitteren Momenten der Erkenntnis.
Sex und Altern
Das mit dem Sex war auch schon mal einfacher! Im Alter muss erst eine Salbe in den Schritt geschmiert werden, nebenan ächzt die pflegebedürftige Mutter und zerstört die Lust. Richie Bravo heißt die Hauptfigur von „Rimini“, ein ebenso anrührendes, hilfloses wie toxisches Mannsbild. Richie hat sich nach Rimini abgesetzt, wo er vor den betagten Gästen über die Wintersaison hinweg seine Herzschmerz-Songs trällert. Ältere Damen sind ganz wild nach ihm; Richie weiß das und nutzt die Frauen gnadenlos aus.
Menschliche Zweckbeziehungen haben Ulrich Seidl bekanntlich schon immer interessiert. Auch dieses Mal schafft er es, ihnen ein Gefühl von Intimität und Tröstlichkeit zu entlocken, so grausam sie mitunter auch aufgelöst werden. Die einen sehnen sich nach dem Urlaubsabenteuer, nach der Flucht aus dem Alltag, der andere braucht das fremde Terrain, um seine Rolle zu spielen, die er woanders nie verkörpern könnte. Richie Bravo ist einer, der eine Scheinwelt errichtet hat, der Attraktion und Weltflucht verkauft und selbst aus seiner Welt kaum fliehen kann. Plötzlich steht seine Tochter vor der Tür, um dem Raubein seine schändliches Verhalten vorzuwerfen. Richie hat sie einst sitzen lassen, jetzt braucht sie Geld. Und plötzlich klaffen da Risse im Urlaubsparadies.
Aufnahmen aus der Geisterstadt
Rimini erscheint in Seidls Betrachtungen derweil als Geisterstadt. Nebel hängt in den Straßen und über dem Strand, der Autorenfilmer findet ungemein atmosphärische, gespenstische Bilder. Geflüchtete liegen bereits mehr tot als lebendig in den Ecken. Richie Bravo schreitet stolz mit seinem Pelzmantel an ihnen vorbei. Auch das ist eine bittere Diagnose, die Seidl der westlichen Bevölkerung immer wieder versichert hat. Man kann noch so tief gesunken sein, am Ende findet man immer noch welche unter einem, nach denen man treten kann. Es sind dennoch keine bloßen Lektionen, die Seidl hier aufsagt. Das hat er noch nie, dafür sind seine Werke viel zu ambivalent, viel zu schmerzhaft, abgebrüht und forschend in ihren Zustandserkundungen.
Alle früheren Themen und Motive wirft Seidl hier noch einmal in die Waagschale und peitscht sie ins Abgründige. In einer der verstörendsten Sequenzen des Films irren die Figuren nur noch durch ein dunkles, heruntergekommenes Gemäuer. In der Trunkenheit wird ein scheußlicher Missbrauch geschehen. Überhaupt der Alkohol, der fließt immer wieder in diesem Film, doch der Rausch ist keiner mehr. Nur der Schlager bietet noch eine Form von Tröstlichkeit, Seidl lässt seinen Protagonisten regelmäßig auftreten. Als finsteres Musical könnte man „Rimini“ auch begreifen, die Kitschmusik dient ihm als Kitt und rituelles Element.
Grausames Dahinsiechen
Eine Läuterung oder Weltverbesserung kann es in Seidls Filmkosmos ohnehin kaum noch geben. Diese Traurigkeit schlägt am heftigsten zu. Das Alter lässt alles und jeden dahinsiechen, die Guten und die Bösen. Es verschlingt jeden politischen Entwurf. Richie Bravos Vater vegetiert im Altenheim vor sich hin, die Geschichte hat man weggesperrt. Soldatenlieder von früher singt er dann und wann. Irgendwann spricht er „Jedem das Seine“ in die Kamera. Ihm ist auch der bedrückende Schluss gewidmet, während Sohnemann sein blaues Wunder erlebt. Vielleicht entsteht da im Urlaubsparadies Rimini zum Schluss tatsächlich noch etwas wie eine kleine Utopie, auch wenn sie als Rachegeschichte serviert wird. Die Sonne wagt sich plötzlich wieder hervor, die Ausgestoßenen haben ein Obdach gefunden.
Jene, die sich zuvor überlegen wähnten, haben nichts mehr in ihrem kollabierten Schmierentheater, an das sie sich klammern können. Sie werden diese Utopie wohl auch nicht mehr miterleben. Der Verfall des Bestehenden ist in Seidls neuem Film längst nicht mehr aufzuhalten, eine ungeheure Trübseligkeit liegt über dieser Charakterstudie, die einmal mehr provoziert, grausame Menschen gleichermaßen zu hassen und doch ins Herz zu schließen. Ein todtrauriges, meisterhaftes Spätwerk!
„Rimini“ feierte seine Weltpremiere im Wettbewerb der 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Ein regulärer Kinostarttermin ist noch nicht bekannt.
Bildquelle:
- Rimini1-df: Ulrich Seidl Filmproduktion