Die gefühlte Nähe zu Michael Jackson sucht im US-Entertainment bis heute ihresgleichen. Die neue Doku zu Missbrauchsvorwürfen zwingt Fans, seine Musik anders zu hören. Auch beim „King of Pop“ könnte nun gelten: Großartige Kunst bedeutet nicht zwingend großartige Menschen.
Der norwegische Rundfunk NRK war einer der ersten: Songs von Michael Jackson würden für zwei Wochen aus dem Programm verschwinden, hieß es zunächst aus Oslo. Radiosender in Neuseeland und Kanada zogen mit. Nach der Dokumentation zu Missbrauchsvorwürfen gegen Jackson bekommen seine Hits wie „Thriller“ und „Billie Jean“ einen bitteren Beigeschmack. Die Frage, ob sich ein Werk vom Künstler trennen lässt, stellt sich nun auch bei einem der berühmtesten und erfolgreichsten Stars der Musikgeschichte.
Titel des „King of Pop“ bedeuten einigen Fans bis heute die Welt, andere geraten beim R&B von Sänger R. Kelly ins Träumen. Die Menschen schwärmen für Woody Allens Liebeskomödien, fiebern Kevin Spacey auf der Kinoleinwand entgegen und nennen „Pulp Fiction“ von Produzent Harvey Weinstein ihren Lieblingsfilm. Die Comedians Bill Cosby und Louis C.K. galten als zwei der besten ihrer jeweiligen Generation. Gehört das Werk dieser Künstler nach Vorwürfen, Ermittlungen oder gar Verurteilungen wegen sexueller Übergriffe verbannt und weggesperrt?
Keineswegs, argumentiert Kritikerin Josephine Livingstone. Filme von Woody Allen oder Roman Polanski seien Geschenke an sie und die Welt der Kultur, schrieb sie im Februar in der „New Republic“ – „und ich werde sie niemals zurückgeben“. Nicht Allen und Polanski verfügten über die Interpretation ihrer Filme und das Vermächtnis ihrer Kunst, sondern das Publikum. Livingstone schlägt sich damit auf die Seite des französischen Literaturkritikers Roland Barthes, der 1967 den „Tod des Autors“ verkündet hatte.
Aber Jackson war ein Gesamtkunstwerk. Die Locken, der weiße Glitzerhandschuh, der schwerelos wirkende Tanz – für kreischende Massen wuchs der Sänger aus Gary (Indiana) zur gottähnlichen Gestalt heran. Fans bekamen das Gefühl, ihn seit Kindheitstagen mit den Jackson 5 und durch Musikrekorde und Klatsch-Schlagzeilen begleitet zu haben. Die gefühlte Bindung zu Michael Jackson sei in der Geschichte des US-Entertainment unübertroffen, meint Wesley Morris von der „New York Times“. Auch deshalb sei der Widerstand gegen die HBO-Dokumentation „Leaving Neverland“, in der die Missbrauchsvorwürfe wieder thematisiert werden, so heftig gewesen.
Und Jacksons Musik ist auch zehn Jahre nach seinem Tod zumindest in der westlichen Kultur allgegenwärtig. „MJ“ wird zitiert und imitiert. Er beeinflusste die Pop-Spitze von Justin Bieber über Justin Timberlake bis zu Bruno Mars. Rapper The Weeknd scheint kein Interview geben zu können, ohne über sein Idol Michael Jackson zu sprechen, Janelle Monáe legte auf der Grammy-Bühne erst vor wenigen Wochen einen Moonwalk hin. Nicht jede Kaufhaus-Playlist und jede Kleinstadt-Disco wird Jackson-frei werden. Michael Jackson ist zu groß, um als Musiker verbannt zu werden.
Vielleicht ist das auch nicht nötig, solange man seine Musik – oder die Filme Harvey Weinsteins und Woody Allens – mit Vorbehalt genießt. Der britische „Guardian“ rät zu folgender Fußnote: „Großartige Kunst kann von schrecklichen Menschen gemacht werden, Talent kann auf entsetzlichste Weise als Waffe benutzt werden.“ Wer ein Werk möge und daraus schließe, dass auch der Künstler automatisch „das Gute“ verkörpert, begehe einen „schrecklichen Fehler“ mit womöglich „furchtbaren Folgen“.
Radiomoderatoren könnten diese Fußnote erwähnen, wenn sie künftig einen Jackson-Song anwählen. Die großen deutschen öffentlich-rechtlichen Sender WDR, NDR, SWR und BR wollen Titel des „King of Pop“ vorerst auch nicht aus dem Programm streichen, das Thema aber beobachten. Der norwegische Rundfunk NRK ruderte nach Kritik übrigens auch wieder zurück: Rundfunkchef Rundfunkchef Thor Gjermund Eriksen sagte: „Wir müssen zwischen Kunst und Künstler unterscheiden.“
Auch die Bundeskunsthalle in Bonn hält an ihrer am 22. März öffnenden Ausstellung fest, die sich mit Jacksons Einfluss auf die zeitgenössische bildende Kunst befasst. Die Schau sei „keine Hommage auf die Person Jackson“.
Jackson war zu Lebzeiten mehrmals mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert worden. Im Fall eines 13-Jährigen, der 1993 erklärte, im Jackson-Schlafzimmer Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein, einigte sich der Sänger mit der Familie des Jungen auf eine Abfindung in Millionenhöhe. Jackson bestritt die Vorwürfe konsequent. Ähnliche Beschuldigungen eines Teenagers führten 2005 zu einem Prozess, der für Jackson mit einem Freispruch in allen Anklagepunkten endete. Trotz mehrer Vorwürfe, wurde Jackson nie verurteilt, eine Schuld nie bewiesen.
Michael Jackson hat brillanten Pop geschrieben, und er hat Kinder womöglich sexuell missbraucht – mit diesem Hintergedanken müssen Fans seine Musik heute hören. Der Titel „Keep It in the Closet“ erinnere nun auch an ein düsteres Geheimnis im Kleiderschrank, „Smooth Criminal“ an einen „sanften Kriminellen“ und der „Man in the Mirror“ gleiche einem Schuldeingeständnis vor dem Spiegel, schreibt die „Washington Post“. Wer Michael Jackson auf diese Weise nicht hören kann, sollte vielleicht besser abschalten. [Johannes Schmitt-Tegge]
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