Ein Hotelzimmer, eine pensionierte Lehrerin, ein junger Callboy und jede Menge Nachholbedarf: „Meine Stunden mit Leo“ lädt ab dieser Woche zum Sex-Diskurs.
Sex besitzt heute etwas Gespenstisches, gerade wenn es um den populären Film geht, aus dem er fast gänzlich verschwunden ist. Irgendwie ist er präsent und doch verbannt man ihn ins Abseits. Alles soll zwar enthemmter, liberaler, offener sein und ist doch prüde wie eh und je. Man hadert, wenn es dann überhaupt zur Darstellung kommt, mit einem Zwiespalt aus Rationalität und Triebhaftigkeit, pornografischer Härte und Zärtlichkeit, Erotik und kühler Mechanik. Inmitten dieses Ringens entspinnt sich auch „Meine Stunden mit Leo“, der neue Film von Regisseurin und Drehbuchautorin Sophie Hyde.
Die großartige Emma Thompson spielt hier eine verwitwete Religionslehrerin im Ruhestand, Nancy heißt sie. Im Herbst ihres Lebens sehnt sie sich noch einmal danach, etwas Wildes zu tun. Und vor allem: einen Orgasmus zu erleben. Richtig guten Sex zu genießen, während er früher lediglich als eheliche Pflicht vollzogen wurde. All die Dinge nachzuholen, die ihr in verklemmten früheren Zeiten verwehrt blieben. Und so bucht sich Nancy den viel jüngeren Callboy Leo Grande (Daryl McCormack), um in einem Hotelzimmer ihre Sexualität zu erkunden.
Selten strebt Sophie Hydes Film ins Freie. „Meine Stunden mit Leo“ richtet sich auf engstem Raum ein. In anschmiegsamen Pastelltönen entspinnt sich ein Kammerspiel, in dem die beiden Hauptfiguren gegen Hemmungen, Zweifel und Rollenbilder anzukämpfen versuchen. Vor allem wollen beide die immer noch tabuisierte weibliche Lust, zumal im fortgeschrittenen Alter, entfesseln.
Langes Vor- und Nachspiel
Sie spielen das äußerst charmant und eindringlich, Emma Thompson und Daryl McCormack, wie sie mit ihrer jeweiligen Position kokettieren, einander belehren, streiten, einfühlen, Fassaden aufbrechen. Auch deshalb, weil Hydes Film trotz seiner Witzchen schnell verdeutlicht, wie ernst ihm sein Anliegen ist, fernab von Frivolitäten und Schmuddelfantasien, die der Plot zunächst suggeriert. Sexualität wieder erzählbar werden lassen, sich offen darüber auszutauschen, darum geht es „Meine Stunden mit Leo“ und vielleicht nimmt er das „erzählbar werden“ ein wenig zu ernst.
Die Form, die Sophie Hyde dafür wählt, ist doppelbödig: Sexuellen Handlungen schiebt sie während der schlaglichtartigen Begegnungen überwiegend ins Unsichtbare. Sprechende, Unsichere drängen in ihre Aufnahmen. Die Gespräche vor, zwischen und nach dem Beischlaf rücken ins Zentrum, die von enttäuschten Erwartungen, Zwängen und unabgeschlossenen Konflikten zeugen. Man kennt diese Art der Auseinandersetzung vor allem aus Arthur Schnitzlers berühmtem Skandal-Stück „Reigen“. Dort bildete Sex als Umschlagpunkt für ein Sittengemälde lediglich eine gestrichelte Linie im Text – mit ähnlichen Leerstellen arbeitet Sophie Hyde in ihrem Film.
Schrittweise entblößen
Erst ganz zum Schluss entblättern sich wörtlich ihre Bilder, wenn sich auch ihre Figuren entblättert haben, körperlich wie seelisch. Wenn alles erforscht, begutachtet und akzeptiert, das Puritanische aus dem Kopf verdrängt wurde. „Meine Stunden mit Leo“ hat allzu explizite Bilder von sexuellen Handlungen oder Genitalien nicht nötig. Und doch stellt sich die Frage, ob nicht gerade bei allem ausschweifendem Gerede über sexuelle Befreiung ein recht genierlicher Film dabei herausgekommen ist.
Es ist nämlich ein schmaler Grat, auf dem Sophie Hydes Kammerspiel wandelt. Alles soll da bis ins kleinste Detail zerredet und moralisiert werden. Wie ein sehr langes Aufklärungsgespräch mit zeitgemäßem Touch, in dem die Kraft des visuellen Erzählens bei all den ausschweifenden Dialogen über Altern, (Selbst-)Liebe und Body Positivity dauernd Gefahr läuft, von gesprochenen Worten zermahlen zu werden.
Pendant zum Ratgeber-Podcast
Im Internet wird man heute bei einem reichhaltigen Angebot an Sex-und Lifestyle-Podcasts fündig, die jeden Akt, jede Begierde, jeden Trieb öffentlich mit Ratschlägen erklären wollen. Mit jeder notwendigen Aufklärung und Enttabuisierung scheint jedoch zugleich der Druck im Streben nach Selbsterfüllung zu steigen. „Meine Stunden mit Leo“ ist der adäquate Film dazu, denn so locker-leicht, wie er seine Utopie eröffnet, ist es dann doch nicht. Hier reicht das Wünscheerfüllen nicht mehr aus, es muss erst am Mindset gearbeitet werden.
Glück, das ist harte Arbeit, um von Level 90 auf 100 zu kommen. Wie es außerhalb der geschützten Umgebung mit möglichen Enttäuschungen weitergeht, bleibt ohnehin offen. Wenn Emma Thompson ihrem Callboy forsch eine Liste mit Praktiken vorlegt, die sie gerne ausprobieren möchte, dann spinnt der Film daraus in Windeseile wieder eine regelrechtes Seminar, in dem erst der Körper ertanzt und Sexualität zur Lehrstunde für das Kinopublikum werden muss. Der Callboy weiß schließlich besser als seine Kundinnen, was diese verlangen. Ein Wunder, dass er noch nicht arbeitslos ist.
Angst vor dem Spiegelbild
Da finden ja gewisse Brüche, Reflexionen, Rollenwechsel statt, gerade wenn es um das Zwanghafte geht, aber sprengt sich dabei die große Befreiung am Ende wirklich aus ihrem beengten Rahmen? Sophie Hydes Film verpasst womöglich zu lange, seine audiovisuellen Mittel gemeinsam mit dem bloßen Gespräch zum Forschen zu bewegen.
Es gibt da einen wunderbaren und oft zitierten Moment mit der entblößten Emma Thompson vor einem Spiegel, einem verletzlich und dennoch keineswegs ausbeuterisch abgefilmten Körper in Raum und Zeit, ganz bei sich selbst, grübelnd, tastend. Er hebt sich vom reinen Dialogkino ab. Doch „Meine Stunden mit Leo“ verliert in seinem abgepolsterten und aufpolierten Safe Space zu viele überflüssige Worte, wo längst Blicke, Gesten, Haltungen, Leiblichkeiten sprechen und die jahrelang eingeschriebenen Fesseln längst offenbar sind. Die schmerzhafte Intimität dieser stummen Beobachtungen treibt sich das ständige Ratschlagen und nervöse Quasseln selbst aus.
Unbefriedigender Höhepunkt
Irgendwann fallen die Hüllen, bekommt das sexuelle Bild freien Lauf, das sich aus der Tabuisierung und all den Repressionen herausschält. Doch echte Euphorie will sich nicht einstellen. Bei aller Gesprächstherapie, Vergangenheitsbewältigung und Feinfühligkeit in der Regie und Dialogführung verpufft ausgerechnet der Höhepunkt, auf den das alles (wenig überraschend) zusteuern soll.
Die Eindrücke auf der Leinwand bleiben hinter dem gesellschaftlichen Diskurs noch auf der Strecke. Man will zwar das Normale, Ungeschönte ausstellen, doch, wenn man ehrlich ist, da sind letztlich wieder nur künstlich glänzende Körper in aufgeräumten Tableaus wie aus einem Einrichtungskatalog zu sehen. Altbekannte Sterilität, verkrampft abgebildete Lust in einem filmischen Lebensratgeber, die weiterhin nach zeitgemäßer, subversiver Formensprache sucht.
„Meine Stunden mit Leo“ läuft ab dem 14. Juli 2022 in den deutschen Kinos. Die Deutschlandpremiere des Films fand im Rahmen der 72. Berlinale statt.
Bildquelle:
- stunden-mit-leo: Wild Bunch Germany