Andreas Kleinert erzählt in seinem Film „Lieber Thomas“ aus dem Leben des Schriftstellers Thomas Brasch und bricht gekonnt mit Kino-Konventionen im Umgang mit deutsch-deutscher Geschichte.
„Für Leute mit Verstand gibt’s nur zwei Möglichkeiten: Künstler oder Krimineller“, ließ Thomas Brasch einst seine Lovely Rita sprechen, die Protagonistin des gleichnamigen, in der DDR verbotenen Theaterstücks. Vielleicht ist das kleine Wörtchen „oder“ überflüssig. Vielleicht überlagern sich das Künstlerdasein und das Kriminelle als rigoroses und unbedingtes Durchkreuzen der gewohnten Ordnung längst untrennbar in einer hybriden Gestalt. Andreas Kleinerts Filmbiographie „Lieber Thomas“ porträtiert eine solche. Einen Thomas Brasch, der schreiben und schöpfen muss, um nicht wahnsinnig zu werden. Der sich zugleich mit Familie, Sittenwächtern und Regierung anlegt, der stört, den Mund aufreißt und den Exzess liebt. Grenzüberschreitung als Zwang und Fantasie, wenn das ideologische Korsett des Umfelds zu eng geschnürt wird.
Brasch, das ist einer, der ein beachtliches Œuvre hinterlassen hat. Einen ganzen Berg an lyrischen, dramatischen und prosaischen Texten, an aufregenden Gattungsmixturen, an Fragmenten. Sein epochaler Roman „Mädchenmörder Brunke“ wurde derweil nie fertiggestellt. Von den mehreren tausend Seiten sind heute nur etwa 90 publiziert, der Rest verflüchtigt sich in einem unnahbaren Konzeptkunstwerk zwischen Genie und Wahnsinn. Auch das zeigt Andreas Kleinerts mitreißende Künstlerbiographie. Das ewige Tippen, das Rastlose, das Streben nach dem ultimativen Opus magnum, das Kämpfen mit den Worten, die unbedingt aus dem Geist wollen und sich immer wieder selbst zu brechen scheinen.
Die Neuentdeckung eines Rebellen
Zwanzig Jahre nach dem Tode Braschs steht die Aufarbeitung und Erschließung seines Schaffens immer noch am Anfang. Dass Kleinerts Kinofilm nun eine neue Begeisterung und ein neues Interesse an dem Literaturrebellen entfachen könnte, wie im Vorfeld des Kinostarts hier und da herbeigeredet wurde, bleibt nur zu wünschen. „Lieber Thomas“ eröffnet vor der turbulenten Biographie des Dichters einen Zugang zu Werk und Person, der paradox gerade im Unzugänglichen seine Kraft entfaltet. So, wie Braschs Texte fortwährend nach Transgressionen und produktiven Schocks suchen, nach gedanklichen Knoten und Widersprüchen, ist Kleinert ein Film gelungen, der eine solch widersprüchliche, rebellische Form für sich entdeckt.
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“, so das Mantra eines Rastlosen. Besagter Vers aus Braschs „Papiertiger“-Text bildet eine Klammer der sieben Kapitel, in die der Film unterteilt ist. Von der Kindheit bis zu Braschs Tod erstreckt sich dieses Biopic. Von den Demütigungen in der Kadettenschule über die wilden Jugendjahre, den Verrat des Vaters, den Gefängnisaufenthalt bis zur Übersiedlung in den Westen Mitte der 1970er und dem Durchbruch mit dem Erzählungsband „Vor den Vätern sterben die Söhne“. Zwischendurch wird gerafft, gestrichen und dazufantasiert, was das Zeug hält, ohne jemals völlig den Pfad zu verlassen, der Persönlichkeit ihre Biographie zu rauben.
Braschs Texte liefern die Zugänge
„Lieber Thomas“ erschließt sich seine ganz eigene Brasch’sche Identität, seinen eigenen Zugriff auf diese Persönlichkeit, der besonders auch über deren Arbeiten erfolgt. Stück für Stück setzt sich ein Puzzle zusammen, ein ausgelegtes Wechselverhältnis zwischen historischen Gegebenheiten, persönlicher Reaktion und künstlerischen Erzeugnissen, die daraus resultieren. Allein das hebt ihn von zahllosen anderen Biopic-Filmen ab, die in ihrem lexikalischen Komplettierungswahn glauben, sie könnten stichpunktartige Lebensstationen in bloße, schnöde Bebilderungen verpacken, als gäbe es da eine wahre Essenz zu entdecken, die sich in zwei Stunden Leinwandtheater erklären lässt.
Was „Lieber Thomas“ anders macht, ist das Schlaglichtartige, das Forschende, psychologisch Fragile. Ein wenig vergleichbar mit den Biopics Pablo Larraíns, der aktuell Ähnliches in seinem Lady Di-Film „Spencer“ unternommen hat. Auch dort sucht man Realbiographisches in der unbewussten Albtraumlogik der Filmfiktion, verschmilzt Faktisches mit Erfundenem und Erträumtem.
Neues deutsches DDR-Kino?
Vor allem aber könnte „Lieber Thomas“ mit gebührendem Erfolg ein Wendepunkt für das deutsche DDR-Historienkino sein. Das ist kein Werk, das die historischen Wunden oder Ostalgie-Klischees wegzutrösten oder wegzulachen versucht. Das ist auch kein verrümpelter Ausstattungsfilm, wie man es besonders aus dem TV kennt, den man wie eine Zeitkapsel öffnet und über das akkurate Interieur staunt. Nein, das ist eine mediale DDR der Illusionen und Gegensätze, wie man sie im Kino noch nicht gesehen hat. Eine der Bohéme-Partys und der verkorksten Zwischenmenschlichkeit. Die man wie ein Schwarz-Weiß-Bilderalbum betrachtet und plötzlich doch auf Unbewusstes stößt. Eine DDR der Säufer und Verräter und Manipulatoren, aber auch eine der Idealisten.
Brasch selbst weigerte sich, auf seine DDR-Herkunft beschränkt zu werden, aber auch zum bloßen Verteufeln dieses zerbrechenden Staates überzugehen, dessen Utopie am Gelebten scheitert. Ihn interessierte laut eigenen Aussagen das Essenzielle in seinen Texten. Vielleicht auch das Archetypische menschlicher Krisenzustände im zermürbenden Lauf der Zeit, der in montierten Eindrücken und Passagen über Braschs teils mythische Figuren hinwegzieht. So, wie in Andreas Kleinerts Film nun in Milieustudie und Zeitgeschichtsrekonstruktion plötzlich irritierend Western-Schießereien, Archivmaterial und Horrorszenen brechen, wenngleich sich hier und da einzelne Motive etwas unkonzentriert und zaghaft in Beliebigkeit und Wirrungen zu verlieren scheinen.
DDR trifft Nouvelle Vague
Nouvelle-Vague-Referenzen tauchen in „Lieber Thomas“ ebenso auf. Allein auch in der Besetzung: Jella Haase in einem großen Casting-Coup als junge Katharina Thalbach als inoffizielle Jean-Seberg-Wiedergängerin. An der Seite eines umwerfend aufspielenden Albrecht Schuch, der Thomas Brasch mit Haut und Haar verkörpert. Im einen Moment sitzt er lesend und tippend am Schreibtisch. Im nächsten Moment wissen wir nicht mehr, wann und ob wir gerade in seinen Geist eingetaucht sind.
Plötzlich eine Exekutionsszene. Der Dichter imaginiert sich selbst als Mädchenmörder Brunke. New York erscheint später als Drogentraum. Auch das bedeutet Historizität: ein solches Irrationalisieren, Ausschmücken und Verwandeln, das Betonen der filmischen Fiktion. Erst Dominik Grafs noch intelligentere Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ und jetzt „Lieber Thomas“ – Es besteht noch Hoffnung für das deutsche Historienkino!
„Lieber Thomas“ läuft seit dem 11. November 2021 in den deutschen Kinos. Weitere Informationen zum Film gibt es auf der Website des Verleihs.
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Bildquelle:
- thomasbrasch: 2021 Wild Bunch