„Licorice Pizza“ von Paul Thomas Anderson: Eine grandiose Zeitreise

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Licorice Pizza
Bild: 021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved.

Meisterregisseur Paul Thomas Anderson („Magnolia“, „There Will Be Blood”) erweckt in seinem neuen Werk “Licorice Pizza“ die 70er noch einmal zum Leben.

In diesem Film gibt es eine Sequenz, von der jeder Regisseur, jede Regisseurin nur träumen kann. Eine, in der jemand all sein Talent bündelt, in der sich all die Eindrücke, all die lose ausgebreiteten Handlungsfäden in ein übergroßes Bild verwandeln, das den gesamten Film zusammenfasst und ihn überdauert.

Im Mittelteil von „Licorice Pizza“ sitzen die von Alana Haim und Cooper Hoffman gespielten Hauptfiguren in einem LKW und wollen gerade ihrem verursachten Schlamassel entkommen. Weil Lachen und Schrecken in den besten Witzen eng beieinander liegen, verkettet Regisseur Anderson in diesen irren Minuten Situationskomik mit bedrohlicher Spannung auf virtuose Weise. Das Timing sitzt perfekt. Im brenzligsten Moment geht plötzlich das Benzin aus, das Gaspedal versagt – Amerika steckt in der Ölkrise.

Gespenstisch lautlos rollt der Wagen den Hang hinab, Alana Haim am Lenkrad steuert den Laster in einem halsbrecherischen Stunt durch die Serpentinen. Eine aufregendere Metapher für die turbulente Karriere der beiden Hauptfiguren hätte man kaum finden können. In ihrer Intensität ist sie mit der Brückenüberquerung aus William Friedkins „Sorcerer“ oder Werner Herzogs Schifffahrt in „Fitzcarraldo“ vergleichbar. Ein ganzes Lebensgefühl einer Epoche steckt in diesem Bild, das „Licorice Pizza“ in epischer Länge (de)konstruiert.

Der Beginn eines wunderbaren Geschäfts

Der 15-jährige Gary Valentine (Hoffman) und die zehn Jahre ältere Alana Kane (Haim) lernen sich 1973 bei einem Fototag an der Schule kennen. Zwischen Freundschaft, Abneigung und Liebesgefühlen bildet ihre schräge On-Off-Beziehung den roten Faden von Andersons neuem Film. Weltweit hat sich das Feuilleton bei „Licorice Pizza“ an der Zartheit wie Uneindeutigkeit dieser Romanze erfreut und abgearbeitet. Hier und da hat man sich ein wenig über den fragwürdigen Altersunterschied der beiden Figuren echauffiert. Zielführend erscheint das kaum, um das Szenario in ihren Grundzügen zu erkennen, das Anderson in lose aneinandergereihten, mitunter etwas zu ausschweifenden Episoden erzählt.

Im Kern handelt es sich um einen zutiefst unromantischen Film, weil „Licorice Pizza“ genau beleuchtet, wie Liebe und Freundschaft lediglich ein Versatzstück der American-Dream-Logik werden, die der Film in seiner ganzen Absurdität vorführt. Zwei junge Menschen lernen hier im 70er-Jahre-Kalifornien, wie sie auf dem Markt bestehen, wie sie verkaufen können. Hoffman und Haim spielen diese Odyssee hinreißend, weil sie in ihrer ganzen Aura und ihrem Auftreten Charakter beweisen, Ecken und Kanten mitbringen, die einem Großteil des amerikanischen Coming-of-Age-Kinos fehlen.

Schlafen auf Wasser

Partnerschaft meint in Andersons Kosmos auch oder gar vor allem Geschäftsbeziehung. Gary und Alana sind zwei, die ihre Zuneigung entgegen des Altersunterschieds entwickeln, weil sie im selben Boot sitzen. Weil da zwei sind, die lernen, ihre Show zu spielen, um im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nach oben zu klettern. Gary weiß als Kinderdarsteller schon früh, wie er sich etwa mit einem zotigen Gag ins Gespräch bringt. Später steigen er und Alana ins Wasserbetten-Geschäft ein.

Beide erkunden, wie sie potentielle Kunden um den Finger wickeln können. Nie haben Sie so gut geschlafen! Alles eine Frage der Taktik. Wo keine Nachfrage ist, muss welche erzeugt werden. Wenn die Menschen besser schlummern, kann sich das Marktkarussell umso munterer weiterdrehen. Bis die Ölkrise auch diesem Geschäft ein Ende bereitet. Die nächste abstruse Start-Up-Idee muss her.

Während der eine nur noch Nonsens und blinkendes Spektakel verkauft, wagt die andere zaghaft, in der Politik etwas am gewohnten Gang zu ändern. Der Ausbruch scheint fraglich, die Zeitkapsel spuckt ihre Erinnerungen hinein in unsere Gegenwart. Ein Leben im ewigen Risiko, immer wieder geht es nach oben, bis der gefährliche Absturz umso plötzlicher geschehen kann. Wieder einmal ist bei Paul Thomas Anderson der ultimative Traum zum Greifen nah, um dann wieder zu zerbröckeln. Die allseits spürbare Fantasie der ultimativen Freiheit ist dabei, ihr eigenes Gefängnis zu werden an diesem Wendepunkt der fragilen 70s-Idylle. Vielleicht löst Anderson all das noch zu naiv und optimistisch auf – sein einziger Fehltritt.

(K)ein nostalgischer Film

„Licorice Pizza“ ist ein Film der Spekulationen. Vielleicht geht es gut, vielleicht auch nicht. Risiko und Selbstüberschätzung als Einstellung. Die schillernde und funkelnde Kulisse bietet Aufwind und Motivation. Stars glänzen in weiter Ferne. Sie bleiben unsichtbar oder entpuppen sich als unangenehme, abgedrehte Zeitgenossen. Aufstieg heißt zugleich wieder nur Überleben für kurze Zeit, er führt vielleicht zu umso größerer Mittelmäßigkeit. Dieser zynische Geist spukt durch „Licorice Pizza“, trotz aller Energie und Komik. Anderson ist dabei ein reichhaltiges, nahezu erschlagend üppiges Sittengemälde gelungen. Mit einer detailverliebten Ausstattung, großem Gespür für Audiovisualität, für Choreographien von Darstellern und Kamerabewegungen.

Nostalgie ist seine Seele, aber nicht sein reiner Antrieb, obwohl er alle Zutaten dafür bereithält. „Licorice Pizza“ ist genau so akribisch mit Zeitkolorit überkleistert wie etwa Quentin Tarantinos „Once Upon a Time in Hollywood„, dennoch unterscheiden sich beide Filme. Paul Thomas Anderson geht subtiler und bescheidener vor. Wo Tarantino gern jedes Straßenschild, jedes Gebäude und Auto wie ein Ausstellungsstück im Museum bestaunt, existiert und lebt die Welt bei Anderson einfach. Er durchwandelt sie, ohne zu glotzen oder ihr bloßes Handwerk der Produktion allzu offensiv auszustellen. Das macht ihn umso verführerischer, immersiver. Tarantino hat indes die Nase vorn, dieser Welt im Prozess des Filmemachens einen echten Kippmoment, eine Irritation abzugewinnen.

Ziellosigkeit als Prinzip

Anderson betreibt in „Licorize Pizza“ keine bloße Vergangenheitsschau; hat er in seiner Karriere nie. Seine Figuren erscheinen immer wieder auf teils verstörende Weise aktuell und gegenwärtig, in ihrem ganzen Charme, in ihren tiefen Abgründen. Ursachenforschung, das ist vielleicht das passende Wort für Andersons Schaffen. Egal, ob es sich um Analysen eines todbringenden Kapitalismus handelt, um Beziehungen, die im Zwiespalt zwischen Schein und Sein keine Zukunft haben, oder um ein Schwelgen in Zeiten, deren Aufbruchstimmungen erdrückend ins Stocken geraten.

Ein wenig wünscht man sich, Anderson würde noch einmal einen Film schreiben, der einen so fulminanten erzählerischen Bogen spannt, der eine so spannende, geradlinige Eskalation durchexerziert wie sein Öl-Epos „There Will Be Blood“, nachdem vor allem seine letzten Filme „Inherent Vice“, „Der seidene Faden“ und nun „Licorice Pizza“ eher in Gemütszuständen schwelgten. Obwohl: Vielleicht lässt sich das gesellschaftspolitische Panorama und Puzzle, mit dem Anderson westliche Karriereversprechen analysiert, gerade in einer solchen versponnenen, orientierungslosen Art und Weise zusammensetzen.

Wahrscheinlich ist das Ziellose, das „Licorize Pizza“ durchzieht, am Ende die adäquateste Form. Das ist schließlich ein Film, der mit seinen Protagonisten und einer ganzen Gesellschaft im hinabfahrenden Laster sitzt, irgendwo zwischen dem Kick der Ohnmacht und der perfekten Kontrolle. Eine katastrophale Bruchlandung droht jederzeit, die Sicht ist eingeschränkt und doch zieht sich der Kopf erneut aus der Schlinge. Einfach rollen lassen, irgendwie geht es schon weiter, selbst wenn es bereits an Treibstoff fehlt. Der Kontrollverlust ist nur scheinbarer Natur, obwohl er uns an den Nägeln kauen lässt. Ein Glück, dass noch einmal alles gut gegangen ist!

„Licorice Pizza“ läuft ab dem 27. Januar 2022 in den deutschen Kinos. Weitere Informationen und einen Kinofinder gibt es auf der Website von Universal Pictures.

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