Trotz eines eher durchwachsenen Wettbewerbs bot die 72. Berlinale einige ausgezeichnete und kontroverse Filme im Programm, die nun auf ihre regulären Starttermine warten. DIGITAL FERNSEHEN stellt fünf Titel vor.
Grand Jeté
Isabelle Stever hat den Roman „Fürsorge“ in unbequemes, furchtbar intensives Körperkino verwandelt. In „Grand Jeté“ beobachtet sie die Affäre zwischen einer Ballerina und ihrem jugendlichen Sohn. Stevers anstößiges Drama entwirft damit das Porträt einer frustrierten Persönlichkeit, die lernt, ihren Schmerz über die eigenen Fehltritte der Vergangenheit und das Versagen des Körpers in die ultimative Grenzüberschreitung zu verwandeln. Gesellschaftlicher Leistungsdruck findet faszinierende wie verstörende Bilder, etwa in einer Gruppe junger Männer, die sich darin messen, wer länger Gewichte an den Hoden tragen kann.
Entfesselt tanzt die Kamera in diesem Film durch Räume, sucht sich ihren Fokus, rückt den entblößten und versehrten Figuren mit schwer erträglicher Nähe zu Leibe, während sich „Grand Jeté“ zu Momenten der Lust und des Ekels durcharbeitet, die allerhand moralischen Grenzen verschieben. Eine widerspenstige, aber auch sinnliche Herausforderung für das Publikum ist das geworden, weil dieser Film seine Grenzüberschreitung als natürliche Konsequenz und Selbstverständlichkeit inszeniert.
„Grand Jeté“ soll im Herbst 2022 regulär in den deutschen Kinos starten.
Incredible But True
Zu sagen, die Filme von Quentin Dupieux seien skurril, ist im Grunde genommen noch eine Untertreibung und wird ihnen doch nicht allein gerecht. Bislang hat sich der Franzose etwa mit mordenden Autoreifen, Wildlederjacken und einer Riesenfliege befasst. Eines hatten diese abgedrehten Werke und Fingerübungen dabei stets gemeinsam: Unter ihrem Mix aus bewussten Nicht-Pointen, wildem Klamauk und fiesen Twists verbargen sich stets tiefe Melancholie und bittere Zeitdiagnosen. Auch Dupieuxs neues Werk namens „Incredible But True“ knüpft an diese Tradition an.
Dieses Mal geht es um ein Paar, das sich ein neues Haus aufschwatzen lässt, weil der Keller ein ganz besonderes Geheimnis birgt. Was genau, das sollte am besten jeder selbst herausfinden, allein die abstruse anfängliche Erklärung ist ein Highlight für sich. Ja, Dupieux war schon gewitzter, temporeicher und zügelloser in dem, was er auf der Leinwand veranstaltet. Dennoch wandelt sich auch „Incredible But True“ in seinen verträumten Bildern zu einem faszinierenden Gedankenspiel rund um Midlife-Crisis, Verjüngungswahn und elektrische Penis-Prothesen, bis eine irrwitzige, nicht enden wollende Montagesequenz allem angestauten Unheil freien Lauf lässt.
Ein regulärer Starttermin in Deutschland ist derzeit noch nicht bekannt.
Rimini
Das österreichische Enfant Terrible Ulrich Seidl meldete sich nach langer Zeit mit einem neuen Film auf der Berlinale zurück und präsentiert sich auf einer neuen Höhe seines Schaffens. „Rimini“ begleitet den abgehalfterten Urlaubs-Schlagersänger Richie Bravo durch dessen Alltag. In Rimini verdreht er über die Wintersaison hinweg älteren Damen den Kopf. Nun muss er dringend Geld auftreiben, denn seine inzwischen erwachsene Tochter, die er einst im Stich ließ, taucht plötzlich bei ihm auf.
Seidl hat einen ungeheuer deprimierenden, finsteren und traurigen Film gedreht. In umwerfend komponierten wie äußerst unbarmherzigen, starren Einstellungen lässt er eine Scheinwelt auseinanderfallen, während Alter und Vergänglichkeit verschlingend Einzug in den Alltag halten.
In Österreich startet „Rimini“ im April 2022 in den Kinos, ein deutscher Starttermin ist noch unbekannt. Eine ausführliche Filmkritik gibt es hier.
Drii Winter
Auch in der Schweiz geht die Welt unter. In gewaltigen Bildern beobachtet Michael Koch ein bäuerliches Milieu in den Alpen, das schon längst nicht mehr real erscheint. Traditionen wirken fortwährend fremd, das menschliche Miteinander unterkühlt. Rau verhalten sich die Bewohner dieser Wildnis, rau und ungeschönt sind auch die Aufnahmen von Tieren und der Handarbeit. Geerntetes Heu kracht wie ein Komet hoch oben aus dem Nebel auf die Erde. Ein antiker Chor steht derweil auf den Feldern und besingt das Unheil, das sich in „Drii Winter“ entfaltet.
Mit dem Entfremden dieses Mikrokosmos zerfällt auch eine Familie in ihre Einzelteile, eindrucksvoll verkörpert von Laiendarstellern. Ein Tumor lässt einen Bergbauer jegliche Kontrolle verlieren. Michael Koch ist damit ein archaisches, eindringliches, episch erzähltes Drama geglückt. Einer der großen Höhepunkte im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale!
Ein regulärer Starttermin für „Drii Winter“ ist noch nicht bekannt.
Happer’s Comet
Bei dem Begriff „Lockdownkino“ stellen sich einem meist alle Haare auf und doch ist Tyler Taormina einer der großen Geheimtipps dieser Berlinale gelungen. Das liegt daran, dass „Happer’s Comet“ die frustrierenden Lockdown-Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre zwar eingeschrieben sind und doch reicht dieser Film über seine zeitlichen Umstände hinaus. Taormina zeigt fragmentarische Szenen einer Nacht in der amerikanischen Vorstadt, gänzlich ohne Dialoge. Eine Irrfahrt, ein Meisterstück der Atmosphäre, das verschiedenste Anknüpfungspunkte, vor allem aber eine hinreißende Seherfahrung eröffnet.
Menschliche Sprache, menschliche Interaktionen sind nicht mehr. Eine Frau wählt eine Telefonnummer, niemand antwortet. Ein Hund schaut TV. Ein Mann sucht nach Pornos im Netz. Und so ist es einmal mehr das Kino, das Brücken bauen muss für eine dunkle Zeit, auch ohne Pandemie. Tyler Taormina konstruiert dabei einen berauschenden, ebenso albtraumhaften wie verspielten Film, dessen komplexes Zusammenspiel von Klangteppichen und bruchstückhaften Bildern immer neue Assoziationen hervorkitzelt. Von Filmgeschichten ist dieses Werk beseelt, David Lynch bis „Donnie Darko“ meint man zu erkennen. Am Ende ist trotz aller Dunkelheit ein Aufbruch erkennbar. In kleinen Lichtkegeln vergnügen sich welche in einem hochgewachsenen Feld.
Ein regulärer Starttermin für „Happer’s Comet“ ist noch nicht bekannt.
Die 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin enden am 20. Februar 2022.
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