In ihrem Regiedebüt „Frühling in Paris“ erzählt Suzanne Lindon von der Liebe zwischen einer Teenagerin und einem viel älteren Mann – und unterläuft gekonnt alle Erwartungen. Nach einigen Festivalauftritten startet der Film heute in den deutschen Kinos.
Am Ende geht es ums Glücklichsein. Wehe, wenn nicht. Der Soziologe Andreas Reckwitz attestierte unserer Gesellschaft eine „Positivkultur der Emotionen“. Alles strebt nach Selbstverwirklichung, nach Authentizität und positiven Gefühlen in möglichst allen Lebenslagen. Das Gegenteil ist meist der Fall. Zugleich bringt diese Kultur nämlich ein großes Maß an negativen Gefühlen hervor, wenn Erwartung und Realität plötzlich nicht übereinstimmen wollen, so ist es Reckwitz‘ Ausführungen zu entnehmen. Man konnte dieses zweischneidige Gefühl eine ganze Weile nicht so überzeugend im Kino sehen wie in Suzanne Lindons Romanze „Frühling in Paris“.
Das Debüt der erst 20 Jahre alten Regisseurin erzählt von einer, die das Leben lernen will und von einem, der Angst hat, es verlernt zu haben. Lindon hat den Stoff dabei nicht nur geschrieben und inszeniert, sondern spielt zugleich auch die Hauptrolle. Ihr alter ego, Suzanne, 16 Jahre alt, bewegt sich fast geisterhaft durch das frühsommerliche Paris. Eine Figur, die ihre Körperlichkeit und Gefühlswelt gerade erst entdeckt. Weder Kind noch Erwachsene, voller Lebensfreude, Tatendrang und Plänen und zugleich voller Melancholie, Orientierungslosigkeit und Zukunftssorgen. Von ihren Altersgenossen ist sie eher gelangweilt, Suzanne will mehr über das Leben wissen. Und so inszeniert sich Lindon selbst, wie ihre Filmfigur an einem kleinen Theater schließlich Raphaël begegnet, 35, ein Schauspieler.
Verbotene Liebe?
Die Selbstverständlichkeit, wie die beiden Persönlichkeiten über das große Altersgefälle hinweg einander annähern und umschmeicheln, ist durchaus als Provokation zu verstehen. Gerade weil es kunsthistorisch so manch fragwürdiges Narrativ ins Gedächtnis ruft. Suzanne Lindon thematisiert dabei unterschwellig auch ein sexuelles Erkunden, ein Erlernen bestimmter Gesten und Verhaltensweisen, um attraktiv zu wirken, so wie es die Konventionen vermeintlich vorgeben. Doch sie bedient dabei keine sexistischen Strukturen, sondern befragt und eignet sie sich auf gekonnte Art und Weise an, um schließlich ihre ganz eigene Sicht zu entwickeln.
„Frühling in Paris“ erzählt nicht einfach eine weitere Lolita-Geschichte, auch wenn er immer wieder damit kokettiert. Vielmehr befreit der Film dieses Motiv von seiner einseitigen Sexualisierung und verwandelt den Blick auf eine solche Figur in eine weibliche, jugendliche Perspektive, die ihre eigenen Regeln sucht und findet. Suzannes Geschichte handelt im Kern nicht einmal von einer Liebesbeziehung im erotischen Sinne. Das ist eine Schwärmerei, mehr nicht.
Midlife-Crisis trifft jugendliche Neugier
Suzanne und Raphaël verkörpern vielmehr die eingangs beschriebene soziale Dichotomie. Suzanne, das junge Mädchen, das in einer Gesellschaft aufwächst, das feste Bahnen, Regeln und Praktiken vorlebt, die man zu erfüllen hat, um der Norm von Glückseligkeit und Lebenserfüllung zu entsprechen. Und andererseits Raphaël, nicht umsonst Schauspieler innerhalb der Handlung, der das Rollenspiel des Alltäglichen eigentlich bereits beherrschen sollte, aber, der Hälfte des Lebens nahe, plötzlich dessen Versprechen und brüchige Ordnung befragt und in eine Existenzkrise stürzt.
Das Lernen voneinander, das Erkunden und Begehren der anderen Person, das sich weniger in sexueller Befriedigung als in einer intellektuellen Bereicherung entlädt, das ist das eigentlich Provokante, das dieser „Frühling in Paris“ bereithält. Und es ist noch dazu bezaubernd gespielt von den beiden, die selbst bei größter Nähe noch Distanz und Respekt zu wahren scheinen, den ihre unkonventionelle Beziehung verlangt. Natürlich können sie einander nicht in ihren eigenen Welten verstehen, aber da ist dieses Gefühl über das Bevorstehende und Gewesene, aus dem man sich vielleicht doch noch einmal befreien könnte.
Ganz viel Kino-Charme
Suzanne Lindon inszeniert das als schwelgerisches Kleinod, das keine große Worte verliert und damit glücklicherweise auf das Weltschmerz-Gefasel vergleichbarer Geschichten verzichtet. Viel Zeit zum Schwadronieren bleibt ohnehin nicht, ihr Film hat mit gerade einmal 74 Minuten eine angenehm kurze Laufzeit. Zugegeben, ab und an wünscht man sich sogar, er würde mehr ins Erzählen kommen. Hier versprüht „Frühling in Paris“ eine gewisse Scheu, seine emotionale Momentaufnahme in größere Kontexte zu lenken und mit eigener DNA anzureichern, die sich vom Geist eines älteren Kinos los sagt, der durch hier durch die Pariser Straßen weht. Die Subversion, die manche in diesen ganzen Filmzitaten erkennen wollten, vollzieht sich dann doch eher auf charakterlicher Ebene, nicht aber in den vielen Versatzstücken, aus denen sich dessen Welt zusammensetzt.
„Frühling in Paris“ erwächst stilistisch aus einer berechenbaren, aber dennoch charmant verpackten Kinonostalgie, einer Lust am Zeitlosen, am Verlieren in der Zeit und Filmgeschichte. Ein bisschen Nouvelle Vague-Flair ist da drin, altes Hollywood-Melodram, Musical spielt eine große Rolle. Irgendwann wird sogar getanzt: auf der Straße, im Café, auf einer Bühne. Das hat natürlich auch etwas von einer bemühten künstlerischen Geste, passt zugleich jedoch bestens zu der Ausbruchsstimmung, die über „Frühling in Paris“ liegt, und der angenehm subtilen, stillen Innenschau seiner Hauptfiguren. Wo die Gefühle undurchdringbar und unaussprechlich werden, äußern sich die Körper.
„Frühling in Paris“ läuft ab dem 17. Juni 2021 in den deutschen Kinos. 2020 war der Film Teil der Offiziellen Auswahl der abgesagten Filmfestspiele in Cannes.
Den offiziellen deutschen Trailer zum Film gibt es hier zu sehen:
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Bildquelle:
- fruehlinginparis: 2020 Avenue B Productions