Filmkritik „Gretel & Hänsel“: Märchenstunde als Horrortrip

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Der amerikanische Regisseur Oz Perkins bringt das wohl berühmteste Märchen der Brüder Grimm zurück auf die Leinwand. In seiner Verfilmung „Gretel & Hänsel“ interpretiert er den bekannten Stoff als psychedelischen Fiebertraum.

„Nichts für Kinder!“, möchte man am liebsten direkt warnen und, tatsächlich, Oz Perkins‘ Märchenverfilmung der anderen Art darf in Deutschland erst ab 16 Jahren geschaut werden. Doch dann fällt einem im nächsten Moment ein, dass „Hänsel und Gretel“, das mit Sicherheit finsterste Märchen der Grimms, eigentlich noch nie kindertauglich war. Da ist Perkins‘ Vision nur die konsequente Bebilderung einer Geschichte, die im Grunde genommen nur als Horrorfilm denkbar ist.

Perkins hat die beiden Namen im Titel bewusst vertauscht. In seiner Adaption liegt der Fokus ganz auf der weiblichen Heldin, die sich um ihren naiven jüngeren Bruder kümmert. Zu Beginn sucht Gretel nach Arbeit, gerät offenbar fast an einen Zuhälter. Wo in der Vorlage aus dem 19. Jahrhundert die Eltern aus Existenzsorgen ihre Kinder notgedrungen verstießen, zückt die Mutter in dieser Version gleich die Axt und droht, ihre Tochter in Stücke zu hacken, sollte diese zurückkehren. So ziehen Gretel und Hänsel aus in den Wald und gelangen zu einem ominösen Haus, das nach Kuchen duftet. Der Rest ist Geschichte. Oder doch nicht?

Gretel entdeckt Unheimliches im Hexenhaus.

Wunderschöne (Alb-)Traumbilder

„Gretel & Hänsel“ ist ein Film, der sich in erster Linie über seine Ästhetik definiert. In dieser Hinsicht muss man Oz Perkins und seinem Kameramann Galo Olivares ein großes Zugeständnis machen, denn die Grimm-Neuverfilmung sieht bisweilen unverschämt gut aus. Egal ob zwielichtige Gestalten im vernebelten Wald, das Hexenhaus, kunterbunte Lichtspiele in den Hintergründen oder Wahnvorstellungen im Kellergewölbe. Die symmetrisch ausgerichteten Bilder schwanken irgendwo zwischen Metal-Albumcover, Gothic-Horror und surrealistischen Eindrücken, die so auch aus einem Film von Alejandro Jodorowsky stammen könnten.

Ja, „Gretel & Hänsel“ ist ein audiovisuell und atmosphärisch äußerst dicht inszeniertes Schauerstück! Und doch will man direkt ein „Aber“ dahintersetzen. So hübsch das alles aussieht, rechtfertigen allein schöne Bilder eben noch keinen Kinobesuch. Zumal sich die permanente Überstilisierung so gut gefällt, dass man irgendwann schon gar nicht mehr weiß, wie Inhalt und Form hier überhaupt einhergehen. Es gibt durchaus Elemente in der Erzählung, die solche Ausflüchte ins Surreale rechtfertigen. Etwa wenn Gretel in ihren Albträumen durchs finstere Gemäuer wandelt. Oder wenn sie und ihr Bruder im Wald nach dem Verzehr giftiger Pilze einen Trip erleben. Vielleicht war ja alles am Ende doch nur eine Drogenfantasie?

Vergeudetes Potential

Oz Perkins macht insgesamt ernüchternd wenig aus seinen interessanten Versatzstücken. Vielleicht wäre es ja sogar sinnvoller gewesen, den Stoff von all diesen psychedelischen, abgehobenen Bildern zu befreien und genau das Umgekehrte zu wagen. Eine Horror-Version der Begegnung der Geschwister mit der Kinderfresserin wäre vielleicht mit purem Naturalismus viel verstörender gewesen. Das wäre immerhin mal ein konsequentes und ungeschöntes Spiegelbild der allegorischen Märchenerzählung! In seiner jetzigen Form verbannt Perkins den Stoff hingegen in künstliche Tableaus, um sich anscheinend einer imaginären Independent-Szene anzubiedern. Aber warum denn nicht den Stoff viel deutlicher mit dem nötigen Maß an Blut, Dreck und Dunkelheit zu versehen, wie es die Vorlage hergibt? Am Ende ist das alles nicht so gruselig, wie die erste Filmhälfte suggeriert. Selbstverliebt und steril, das trifft es eher!

„Gretel & Hänsel“ zieht sich mit seiner ausgedünnten Erzählweise leider unendlich in die Länge. Das Gruselmärchen hält sich viel zu lange mit Bekanntem auf. Man wartet ewig darauf, worin denn nun die erzählerische Innovation dieser (gefühlt hundertsten) Neuauflage besteht. Perkins Film schleppt sich dann bemüht zu einem ambivalenten feministischen Twist rund um Ermächtigung und Machtmissbrauch. Und dennoch bleibt das alles im wahrsten Sinne zu blutleer und zahm. Wie der bekannte Stoff weitergesponnen und aktualisiert wird, ist zwar gut gemeint, aber zu ausgehöhlt, um eine Diskussion über den alten Hexenzauber anzustoßen. Etwas mehr Straffung und Mut zum Exzess hätten aus einem netten Film wahrscheinlich einen sehenswerten gemacht.

„Gretel & Hänsel“ läuft ab dem 9. Juli bundesweit in den deutschen Kinos.

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Bildquelle:

  • gretelundhänsel: Patrick Redmond/ Capelight
  • Gretel und Hänsel: Capelight Pictures
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