Am Wochenende sind die 79. Internationalen Filmfestspiele Venedig zu Ende gegangen. DIGITAL FERNSEHEN stellt ausgewählte Programm-Highlights vor, die bald regulär im Streaming oder Kino zu sehen sind.
Bones and All
Luca Guadagnino („Call Me By Your Name“) meldet sich mit einem weiteren einfühlsam erzählten Coming-of-Age-Meisterwerk zurück. „Bones and All“ erzählt die Liebesgeschichte zwischen – Achtung! – zwei jungen Kannibalen. Taylor Russel spielt Maren, die sich gemeinsam mit dem gleichgesinnten Lee („Dune„-Star Timothée Chalamet) auf eine Reise durch die USA der 1980er-Jahre begibt, um ihre eigenen familiären Wurzeln und ihre kannibalistischen Triebe zu erkunden.
„Bones and All“ erzählt damit die Geschichte zweier Ausgestoßener als Sinnbild einer disziplinierenden Gesellschaft, die für alles abseits der Norm keinen Platz zu haben scheint. Mit welcher Intimität Luca Guadagnino die Einsamkeit der beiden Hauptfiguren in Szene setzt, ist zutiefst erschütternd gelungen. Mit einer grausamen Schlusspointe brennt sich diese unkonventionelle Romanze in das Bewusstsein ein. Ab dem 24. November kann man den Film in den deutschen Kinos sehen.
Blonde
Schon seit vielen Monaten wurde immer wieder über diesen Film berichtet. Regisseur Andrew Dominik soll angeblich mit Netflix in Konflikt geraten sein, weil „Blonde“ der Streaming-Plattform zu freizügig gewesen sein soll. Jetzt hat die Romanverfilmung nach Joyce Carol Oates endlich das Licht der Welt erblickt. Den Grund für die Aufregung kann man zwar nicht so ganz verstehen, dafür ist „Blonde“ aber ein wuchtiges, aufreibendes Werk über die dunklen Seiten einer Hollywood-Ikone geworden. Ana de Armas spielt in einer Oscar-reifen Performance die Schauspielerin Marilyn Monroe.
Fast drei Stunden lang verfolgt „Blonde“ dabei, wie der Superstar an dem Missbrauch ihrer von Männern dominierten Branche zerbricht. Dominik Blonde erzählt das fiktionalisierte Leben von Monroe als wahnhaften Bewusstseinsstrom und montierte Psychose, die sich in immer verstörenderen Gedankenschleifen verliert und ästhetisch alles aus seinem Medium herausholt. Ab dem 28. September kann man den wahrscheinlich besten Netflix-Film des Jahres streamen.
Tár
Cate Blanchett wurde für diesen Film als beste Schauspielerin in Venedig ausgezeichnet und das völlig verdient. Es ist eine furiose Leistung, die Blanchett hier zeigt. Ihr gehört nahezu jede einzelne Szene dieses Films, der Schritt für Schritt das fragile Machtgebilde auseinanderfallen lässt, das sich Blanchetts Figur errichtet hat. In „Tár“ spielt sie eine weltberühmte Dirigentin, die alles erreicht hat, was man in ihrer Branche erreichen kann. Doch der gefeierte Star hat schon bald beruflich und privat mit diversen Rückschlägen zu kämpfen. Diverse Skandale um ihre Person dringen an die Öffentlichkeit.
Todd Field („Little Children“) hat diesen ungemein verführerischen, abgründigen Film inszeniert. „Tár“ ist mit einer formalen Strenge inszeniert, die die kühle Luxuswelt der Protagonistin eindrucksvoll zum Leben erweckt. In langen Einstellungen lässt er das Schauspiel von Cate Blanchett glänzen, während der Film ein ebenso unberechenbares wie hypnotisches Charakterbild zeichnet, das so manches Diskussionspotential birgt. Bis zum regulären Start dauert es zwar noch ein wenig, dafür wird der vermutliche Oscar-Anwärter am 23. Februar 2023 bundesweit in den Kinos starten. Einer der Höhepunkte im Wettbewerb von Venedig!
Athena
Gleich mehrere Netflix-Filme liefen in diesem Jahr im Programm der Filmbiennale. Zu den stärksten Titeln gehörte dabei „Athena“ von Romain Gavras. Sein Actionstreifen zeigt, in welcher Windeseile Zivilisation in sich zusammenfallen kann. „Athena“ erzählt von einem eskalierenden Konflikt zwischen Jugendlichen eines marginalisierten, verarmten Wohnviertels und der Polizei. Es kommt zum Krieg und einer nicht enden wollenden Gewaltspirale.
Gavras zeigt das ganze Chaos in äußerst beeindruckend choreographierten Plansequenzen, die ihr Publikum mitten hinein in ein apokalyptisches Szenario zerren. „Athena“ versagt zwar bei der Auflösung seiner Handlung, gehört jedoch mit Sicherheit zu den intensivsten Seherfahrungen des Jahres, die in Venedig für äußerst kontroverse Reaktionen gesorgt hat. Ab dem 23. September kann man sich bei Netflix selbst eine Meinung bilden.
The Banshees of Inisherin
Martin McDonagh hat zuletzt mit dem Oscar-prämierten „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ zwar nicht gerade einen konsensfähigen Film gedreht, gehört aber mit Sicherheit zu den aktuell renommiertesten Autorenfilmern Hollywoods. Mit „The Banshees of Inisherin“ hat der Brite wieder äußerst geschliffenes, schwarzhumoriges Dialogkino geschaffen. Sein neues Werk spielt 1923 auf einer irischen Insel und erzählt von zwei Freunden (Colin Farrell und Brendan Gleeson), die zu Rivalen werden.
McDonagh hat damit eine Kriegsmetapher verfilmt, die in Gestalt einer Art finsterer Sage das Grauen einer Epoche im kleinen Zwist spiegelt. Zwar ist „The Banshees of Inisherin“ recht schwerfällig geraten, dafür glänzt das Drama mit seinen mythisch aufgeladenen Landschaftsbildern und dem umwerfenden Schauspiel von Colin Farrell und Brendan Gleeson. Farrell gewann in Venedig den Preis als bester Schauspieler. Am 12. Januar 2023 wird der Film in den deutschen Kinos starten.
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