Als Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ 2008 veröffentlich wurde, war der Aufschrei groß. Provokant, freizügig und vor allem schonungslos offen blickt der Zuschauer in das Leben der Protagonistin – selbst beim Tamponwechsel. Dabei gelingt es dem Film, auch die Geschichte hinter den „Skandalen“ in Szene zu setzen.
„Dieses Buch sollte weder gelesen noch verfilmt werden. Das Leben hat doch so viel mehr zu bieten als solch ekelhafte Perversitäten. Wir brauchen Gott!“. Der Aufschrei eines Lesers von „Bild.de“ blieb ungehört. Rund 2,5 Millionen mal wurde Charlotte Roches Buch „Feuchtgebiete“ verkauft, monatelang stand es an der Spitze der Bestsellerlisten – und jetzt kommt es auf die große Leinwand. Doch damit nicht genug. David Wnendt stellt das Zitat – Gott hin oder her – auch noch an den Anfang seines Filmes und ruft damit in Erinnerung, was los war in Deutschland, als Roches Buch 2008 erschien. Platte Provokation, Pornografie, Skandal riefen die, denen es nicht gefiel. Erfrischendes Erzählen, Tabulosigkeit, neuer Feminismus sagten etwas leiser die, die es mochten.
Jung-Regisseur David Wnendt, der für seinen Film „Kriegerin“ über die Neonazi-Szene zahlreiche Preise abräumte, scheint das Buch zu mögen. Zumindest hat er sich ihm mit ganz viel Unvorgenommenheit genähert – und die Rolle der 18-jährigen Helen Memel mit einer großartigen Schauspielerin besetzt: der Schweizerin Carla Juri. Ihr mutet er einiges zu. Tampontausch mit der besten Freundin Corinna, der „Blutsschwester“ (Marlen Kruse), Masturbation mit Gemüse (Testsieger: Möhre), Hämorrhoidenbehandlung durch den großartigen Edgar Selge als Doktor Notz – kaum eine der Skandalszenen, mit denen das Buch einst für Aufregung sorgte, lässt Wnendt aus.
Immer wieder zeigt er Juri nackt – allein oder in Gesellschaft -, blutverschmiert oder mit diversen Körperausscheidungen spielend. Das brachte dem Film die aus Verleihersicht eigentlich wenig erstrebenswerte Freigabe erst ab 16 Jahren ein. Alles andere wäre bei der Romanvorlage aber auch eine Überraschung gewesen.
Roche selbst hielt ihr Buch für quasi unverfilmbar. „Da sind ja schon auf jeder Seite Hardcore-Sachen. Das wäre schon sehr splatter-pornomäßig und würde das Publikum wahrscheinlich überfordern.“ Bei der vom Großteil des Publikums bejubelten Weltpremiere in Locarno sagte Autorin Roche nun: „Ich bin sehr glücklich über diesen Film.“
Das liegt wohl daran, dass Wnendt die eigentlich rührende Geschichte des Romans erkannt hat und die inzwischen berühmten Skandal-Episoden einbettet in eine berührende Handlung. Denn die „zeigefreudige“ Helen, die von Körperhygiene nur bedingt begeistert ist, ist nicht nur tabulos und genusssüchtig, sie ist als Scheidungskind vor allem auf der Suche nach Halt, Geborgenheit und Liebe – nach eigentlich ganz klassischen Familienwerten.
Rückblicke in ihre Kindheit zeigen immer wieder, was sie mit ihren Eltern (großartig: Meret Becker und Axel Milberg) durchgemacht hat. Die depressive Mutter versuchte einst, sich das Leben und Helens kleinen Bruder gleich mitzunehmen. Der Vater weiß mit seiner 18-jährigen Tochter nicht mehr viel anzufangen. Und so will Helen die Zeit im Krankenhaus, wo sie wegen einer missglückten Anal-Rasur und eben jenen undamenhaften Hämorrhoiden behandelt wird, vor allem nutzen, um die getrennten Eltern am Krankenbett der Tochter wieder zusammen zu führen. Die restliche Zeit nutzt sie, um den attraktiven Pfleger Robin (Christoph Letkowski) mit ihrer offenen Art um den Verstand zu bringen und um den Finger zu wickeln.
Helen fühlt sich einsam, verlassen und verloren und schreckt nicht davor zurück, sich schreckliche Dinge anzutun, um diesen Zustand zu beenden. Dass Hauptdarstellerin Juri ihren bezaubernden Akzent nicht ganz ablegt, gerät zum Stilmittel und unterstreicht die Fremdheit, die Helen wohl fühlen muss in Bezug auf ihre Familie und die ganze Welt. Auch wenn – nicht nur – Boulevardmedien bereits vor allem den Ekelfaktor betonen und auch einige – wenige – Journalisten ihn nach der Weltpremiere Film pauschal als „ekelhaft“ klassifizierten, entwickelt „Feuchtgebiete“ auf der Leinwand eine ganz eigene Ästhetik. Bei aller Tabulosigkeit behält Heldin Helen immer eine gewisse Unschuld und bewahrt kindliche Träume.
Hauptdarstellerin Juri sieht hinter dem Film, wie sie der Nachrichtenagentur dpa im Interview sagte, „ein universelles, existenzielles Thema“. Das habe ihr auch das Spielen expliziter Nacktszenen leicht gemacht. Tatsächlich sind im Film Ekel- oder Sexszenen nie Selbstzweck oder Effekthascherei, und eine gute Portion Ironie ist auch dabei. Und so ist aus dem Skandalbuch ein durchaus beeindruckender, einfühlsamer und auch sehr humorvoller Film geworden, der sicher noch für einige Debatten sorgen dürfte.Kinokritiken im Überblick
[Britta Schultejans/fm]
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