Ein coronabedingter Stau sorgte für Filme im Überfluss, aber damit auch für ein besonders hochkarätiges Kinojahr 2021. DIGITAL FERNSEHEN stellt zehn Neuerscheinungen vor, die man gesehen haben sollte.
Platz 10: Große Freiheit
Sebastian Meise hat in „Große Freiheit“ einen grandios verdichteten Blick auf die Schrecken des Paragraphen 175 geworfen, der in Deutschland Homosexuelle hinter Gittern brachte und auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch lange Anwendung fand.
„Große Freiheit“ erzählt von allerhand Leid und Demütigung, aber auch von einem Ringen um Würde und Erotik, mit intensiven Grenzgängen zwischen Freundschaft, Solidarität und Liebe. Ein umwerfend inszenierter Kampf gegen die Enge der Bilder, in denen Figuren mit Mauern zu verschmelzen drohen. Dazu zeigt Franz Rogowski als Inhaftierter eine der bewegendsten schauspielerischen Leistungen des Jahres.
Platz 9: The Green Knight
David Lowery ist eine der ersten wirklich konsequenten Verfilmungen mittelalterlicher Literatur gelungen. Das Fantastische, das radikal Andersartige und Befremdliche der Textvorlage „Sir Gawain and the Green Knight“ bannt er in einen stilistischen Rauschzustand mit kopfstehenden Bildern, entfesselter Kamera, expressiven Farben, Trip-Sequenzen, gespenstischen Klängen und Horrorbildern. Lowery fährt alles auf, was Kino zu bieten hat.
Der junge Ritter Gawain, der Neffe des alternden König Artus, reitet seinem Tod entgegen, verkörpert durch den Grünen Ritter. „The Green Knight“ spinnt daraus eine Abrechnung mit altbackenen Vorstellungen von Männlichkeit und Ehre. Oder ist es doch eine Allegorie auf den Klimawandel?
Platz 8: Drive My Car
Drei Stunden dauert dieses Werk, wie ein halbes Leben fühlt es sich an, das man mit den Figuren verbringt. Ryusuke Hamaguchi hat eine Kurzgeschichte von Erfolgsautor Haruki Murakami auf epische Länge gedehnt. Er entwirft ein Psychogramm, das sich immer weiter verzweigt, ausbreitet auf verschiedenste Charaktere, die an Persönlichkeit gewinnen und ihre kommunikativen Hürden überwinden.
Zwei Trauernde wollen Worte für das Unaussprechliche finden. Er Theaterregisseur, sie seine Fahrerin. Die Autofahrt entdeckt man als therapeutischen Prozess, den Blick durch das Fensterglas als Kino des Lebens. Ryusuke Hamaguchi ist ein Meisterwerk gelungen und es ist nicht sein einziges in diesem Jahr: Der ebenfalls grandiose „Wheel of Fortune and Fantasy“ lief im Berlinale-Wettbewerb und wartet weiterhin auf einen Kinostart.
Platz 7: Benedetta
Paul Verhoevens neues Historiendrama über die verbotene Liebe zwischen zwei lesbischen Nonnen wurde 2021 seit seiner Premiere in Cannes kontrovers diskutiert. Dabei sind die zahlreichen sexuellen und gewalttätigen Provokationen gar nicht die eigentlichen Stolpersteine in diesem ebenso cleveren wie urkomischen Film.
Im Kern hat Verhoeven mit „Benedetta“ eine komplexe Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben gedreht, die den schmalen Grat zwischen Ideologie und Wunder, Gewalt und Erotik, Manipulation und Unterwerfung meisterhaft abwandelt. Unser kompliziertes heutiges Verhältnis zum Religiösen kann man mit dem Skandalfilm wunderbar auf die Probe und den Kopf stellen lassen.
Platz 6: Zorn der Bestien – Jallikattu
„Jallikattu“ hat zwei Jahre gebraucht, um eine reguläre Auswertung in Deutschland zu erfahren, und das Warten hat sich gelohnt. Der indische Oscar-Beitrag beweist, wie wenig Filme einer ausgeklügelten Story-Konstruktion bedürfen, wenn man einfach eine kluge wie universelle Idee schlicht bis zum Exzess treibt.
„Zorn der Bestien – Jallikattu“ erzählt von der Jagd auf einen entflohenen Stier. Die Männer des Dorfes rotten sich zusammen, bald kochen die Konflikte untereinander so hoch, dass die Treibjagd in purer Selbstzerfleischung endet. Ein apokalyptisches, überwältigendes Werk. Man traut seinen Augen kaum!
Platz 5: Bad Luck Banging or Loony Porn
Radu Judes diesjähriger Berlinale-Gewinner ist eine furiose Publikumsbeschimpfung. In drei großen Kapiteln entwirft die FSK-18-Komödie das Porträt des gegenwärtigen Rumäniens und Europas im Allgemeinen. Über alten Ruinen kleben sexistische Werbetafeln, Rassismus und alte Moralvorstellungen brechen immer wieder durch.
Eine Lehrerin windet sich durch ihr unerträgliches Umfeld: Ihr Sextape wurde ins Internet gestellt, jetzt soll sie suspendiert werden. „Bad Luck Bangin or Loony Porn“ wechselt zwischen Dokumentarfilm, Boulevardkomödie und wild montiertem Filmessay. Ein Film, der sich immer wieder spielerisch neu zusammensetzt.
Platz 4: Herr Bachmann und seine Klasse
„Herr Bachmann und seine Klasse“ zeigt eine verblüffende Utopie: Der titelgebende Lehrer Bachmann stellt den drögen Schulstoff gerne mal hinten an. Ihm liegt mehr daran, seine Schülerinnen und Schülern zu demokratischen, empathischen und solidarischen Menschen zu erziehen.
Über drei Stunden lang verfolgt Maria Speth in ihrem faszinierenden Dokumentarfilm die Schulklasse. Sie ist nah dran an den Erfolgsmomenten, den traurigen und komischen Situationen. Sie zeigt das Porträt einer postmigrantischen Gesellschaft und sie legt Probleme offen, an denen die geschilderte Utopie scheitern kann. Einer der längsten Filme in diesem Jahr und zugleich einer der spannendsten!
Platz 3: Dune
Die Verfilmung der ersten Hälfte von Frank Herberts Sci-Fi-Klassiker hat bewiesen, dass es noch ein Blockbusterkino gibt, das sich abseits von Blödelei, schlechten Computereffekten und langweiligem Fanservice präsentiert. „Dune“ zeigt spätkapitalistische Krisenherde anhand des Machtkampfes zweier verfeindeter Familien auf dem Wüstenplaneten Arrakis um die Droge Spice.
Imperialismus, Gier und Umweltausbeutung der Vergangenheit werfen ihre geisterhaften Schatten bis in die Gegenwart. Zugleich wird in dieser Gegenwart der junge Paul Atreides von einer Zukunft heimgesucht, die die Katastrophe nur in anderer Gestalt zu wiederholen droht. Mit dem Warten auf einen Messias ist dieser Konflikt nicht zu lösen, das zeigt dieses bild- und klanggewaltige Spektakel, das nach einer Auflösung im bevorstehenden zweiten Teil verlangt.
Platz 2: Titane
Julia Ducournau hat mit ihrer Serienkillerin-Geschichte 2021 die Filmfestspiele von Cannes gewonnen. „Titane“ ist Extremkino, das in dem einen Moment in seiner Schmerzhaftigkeit und Brutalität kaum auszuhalten ist und im nächsten Moment mit sehnsuchtsvollen Zärtlichkeiten verblüfft.
Am Ende dieses Trips steht eine Geburt, die jegliche Grenzen von Geschlechtlichkeit, Mensch und Maschine aufsprengt. Queere Theorie hat Ducournau in einen unvergesslichen Körperhorrorfilm verwandelt, der jegliche Genre-Schubladen verweigert. Es bleibt spannend, was diese vielversprechende Regisseurin als nächstes drehen wird!
Platz 1: Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Dominik Graf hat den besten deutschen Film seit „Toni Erdmann“ gedreht. Erich Kästners Roman wird hier mit Tom Schilling in der Hauptrolle werktreu auf die Leinwand gebracht und zugleich auf kluge Weise neu befragt. Das ist ein Film, der das Fragmentarische, Rohe, Unvollendete zum konsequenten Prinzip erhebt. „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ zeigt, welcher Kraftakt die Auseinandersetzung mit Geschichte, mit Kunst als Geschichte sein muss.
Es handelt sich um einen regelrechten Befreiungsschlag zwischen Gegenwart und Vergangenheit gegen all die Historienschinken, die sich mit etwas musealer Ausstattung und einem verdrossenen „So war es!“ begnügen. In diesem Fall bedeutet das auch, dass es unmöglich ist, Kästners Werk aus heutiger Sicht zu verfilmen, ohne die damals bevorstehende Machtübernahme der Nazis, Krieg und Holocaust mitzudenken. Fabian läuft hier bereits über Stolpersteine auf dem Fußweg. Diese drei Stunden sind ein notwendiger Glücksfall für die deutsche Filmlandschaft. Allein die erste Szene von „Fabian“ ist für die Ewigkeit.
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