Disneys Schleudertrauma: „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“

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Horror-Altmeister Sam Raimi hat mit „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ das nächste Kapitel des Marvel-Universums inszeniert. Trotz psychedelischer Sprünge durch Zeit und Raum fehlt die Fantasie.

Ein Multiversum im Kino ist eine eigenartige Angelegenheit. Die Fiktionsschranke der Leinwand scheint plötzlich nicht mehr auszureichen. Sie muss sich in der verwandelten Fortsetzung unserer Welt weitere interne Schranken errichten, die sie zugleich wieder einreißen kann, um sich vielfach aufzuspalten und zu potenzieren. Was es in den Splittern und Scherben dieser zerteilten Spiegelwelt zu erfahren gibt, ist nunmehr bloßer Taumel – „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ zeugt davon in jeder Minute. Das Kino als geschützter Rückzugsort und Ort der Verdichtung von Realität wird dadurch allzu unreflektiert überflutet von all den nicht zu erfassenden Gleichzeitigkeiten der digitalisierten Welt. Ein Vertiefen, Fokussieren oder gar Festlegen hat es sich ausgetrieben. Die Realität sprengt ihren Rahmen.  

Marvel’s Multiversenkino in „Doctor Strange“ ist eines, das jeden Raum nur von seinem Notausgang her betrachtet, im Zweifel zu jeder These seine Antithese mitliefert und zu jedem Monument einen Vorschlaghammer, um es gleich wieder vom Sockel zu stoßen. Es entledigt sich seiner Zwänge und Verantwortungen, eröffnet nicht nur fremde Welten, sondern vor allem neue Optionen, die eigenen Stoffe umzuschreiben, wiederzubeleben, für kurze Zeit aufzubrechen, um etwas Zeit zu schinden, die Zukunft zu planen. Die zahllosen Fährten seit „Avengers: Endgame“ nehmen derweil immer neue Irrwege und Abzweigungen, spalten sich in Paradoxien auf. Alles ist vernetzt, alles ist geistlos. Ihre über Jahre hinweg vorgezeichneten Karten erscheinen fortwährend als leere Versprechen.

Bildgewordene Störungen

„Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ wirkt wie die verfilmte Gedankenschleife einer Hollywood-Maschinerie, die die eigene Ziellosigkeit in adäquate ästhetische Reizüberflutung überführt hat. Wie ein Trip fühlt sich dieser Film an, der einen benommen durch Digitalwelten schleudert. Seine audiovisuellen Volten, Bilderpuzzle und Realitätsbrüche hat man als schräges, kunterbuntes, oftmals bewusst schroff aneinandergeschnittenes Blitzen und Flackern von Eindrücken, Kosmen und bildwerdenden Klängen, als Ansammlung von Glitches in der eigenen Fiktion auf die Leinwand gebracht. Wo jene Ziellosigkeit regiert, verkauft sie sich nun als Experiment, das nur bedingt eines ist.

Wieder hat man sich dafür einen prominenten Zeremonienmeister hinter die Kamera geholt: Horror-Experte Sam Raimi hat die Regie bei diesem Marvel-Abenteuer übernommen, bekannt durch kultige Werke wie „Tanz der Teufel“, die „Spider-Man“-Trilogie mit Tobey Maguire oder „Drag Me To Hell“. Seine spärlich eingestreuten Markenzeichen erscheinen wie kleine Zitate und Freiheiten, die man den Künstlerinnen und Künstlern im Marvel-Universum überlässt. Taika Waititi bekam in „Thor 3“ seinen Klamauk, Chloé Zhao durfte in „Eternals“ hübsche Landschaften filmen und Sam Raimi lässt in „Doctor Strange“ nun die Toten tanzen.

In seinem Film werden Zuschauer mit lauten Knallgeräuschen erschreckt, Monster-Glubschaugen herausgestochen und Körper malträtiert. Natürlich alles bebildert im Rahmen des FSK-12-Korsetts. Die Schnelligkeit der Eindrücke raubt ohnehin jedem Schrecken seine Dauer. Und so geht es durch das Marvel’sche Gruselgewusel in einem irren Tempo, dass einem die Augenlider flattern und jede Orientierung versagt, wenn all das simultane Nebeneinander von Nicht-Orten seinen eigenen surrealen Kosmos erschafft.

Eine Mutter wird zur Hexe

Gleich zu Beginn öffnet sich das Paralleluniversum namens Disney+, um die Protagonistin aus „WandaVision“ wieder zurück auf die Leinwand zu spucken, wo sie hergekommen ist. Nun allerdings als ihr böses Ebenbild Scarlet Witch, gespielt von Elizabeth Olsen, die das Disneyversum heimsucht und von Doctor Strange und Co. gebannt werden muss.

Allzu Menschliches soll damit wieder einmal erzählt werden. Von dem Bösen in Menschen, der Konfrontation mit der eigenen Kehrseite. Im Kern geht es um Mutter- und Schuldgefühle, allein ihre äußere Rahmung explodiert ins Unermessliche. „Diese Familie ist unsere Festung“, heißt es im ersten Trailer zu James Camerons „Avatar 2“, der im Vorprogramm zu diesem Film gezeigt wird. Und „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ antwortet darauf.

Was wäre, wenn…

Familie ist hier in der Tat zur Festung geworden, zum Tempel einer bösen Hexe. Mal erscheint er als verzauberte Ruine, mal als herbeifantasierte Vorstadtidylle. Eines der zentralen Themen von „WandaVision“ wird damit weitergeführt: der zerstörerische Rückzug in den eigenen Mikrokosmos. Er soll im Kleinen all das psychedelische Weltenreise-Gewimmel auffangen.

Zum echten Exzess oder gar zur Transzendenz taugt die ganze Zauberei derweil kaum, dafür verabscheut dieser Film sein eigenes Multiversum viel zu sehr. Er hat die strenge Routine in das Hirnverdrehen längst eingeschleust. Die Frage, was wäre, wenn all das hier womöglich ganz anders verlaufen wäre, ganz anders verlaufen könnte, führt schließlich unweigerlich zu einer kritischen Reflexion der eigenen Filmwelt, der sich „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ hartnäckig verweigert.

Das Multiversum als Freifahrtschein

Recht früh zeigt Sam Raimi einen Sturz durch die Raumzeit, der alles auffährt, was sich mit kreativem Geist in Comic-Filmen anstellen ließe. Da geht es durch Cyberspace und Urzeit, durch Zeichentrickwelten und Farbenflut, nur um wieder im häufig ernüchternd fantasielosen Altbekannten zu landen. Dessen titelgebende „Madness“ soll zuvorderst im Gothic-Nebelschleier und in zerbröckelnden CGI-Städten gefunden werden. Hier und da kokettiert man ein wenig mit Einzelschicksalen von Figuren, doch fundamental strebt alles danach, die alte, gewohnte Welt zu restaurieren, die für zwei Stunden wörtlich in die Schwebe gebracht wird. Die Idee eines Multiversums verliert schon allein dadurch jedwede Produktivität, weil dieser Film eine einzelne Realität, nämlich die der bisherigen Filme, zum Vergleichsmaß aller Dinge erhebt.

Das Ausbrechen aus ihr darf nur wenigen Figuren vergönnt sein. Sie wahrlich aufzulösen, hieße nämlich, die Kohärenz der eigenen Kinoserie auszuhebeln – eine Vorstellung die den Schöpfern offenbar grauenerregender scheint, als es eine Bösewichtin mit ihren dämonischen Schergen je sein könnte. Alles wahrhaft Utopische oder wenigstens Dystopische dient diesem Film lediglich als Kulisse für müde Superhelden-Kabbelei, als Set-Piece, das man allein mit Misstrauen durchwandelt.

So oder so präsentiert sich das Multiversum als enttäuschender Freifahrtschein. Sein Eröffnen dient allein als Option für das Inszenieren einiger willkürlicher Absurditäten. In dem berechnenden Wissen, dass sich hinter jeden einzelnen dieser Momente ein Lachsmiley setzen ließe, der mit dem Sprung in eine andere Welt keine echten Konsequenzen zu befürchten hat. Was beim Publikum nicht ankommt, wird in der Paralleldimension eingeschlossen, der Rest verliert sich in der gewohnten Hinführung auf Zukünftiges.

Marvel’s „Treehouse of Horror“

„Doctor Strange“ hebt letztlich ab zu einem absonderlichen Testflug durch den multidimensionalen Raum, ohne jedes Ziel, blind für vieles, was es dort zu entdecken gäbe. Es fehlt ihm schlichtweg der Mut, jemanden wie Sam Raimi vollends sein Element ausleben zu lassen. Es fehlt der Mut zur tatsächlichen Verkehrung der eigenen Welt, deren Zerrbilder sich allzu schnell als bloße Fortsetzung des Vertrauten entpuppen. Die sich jederzeit als erzählerisches Spiel ausweisen, dessen Folgen entweder einerlei oder unklar erscheinen.

„Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ ist das Marvel-Pendant zu den “Treehouse of Horror”-Episoden der “Simpsons”. Ein einziges Mal gibt man sich wild, morbide, obskur, erkundet alternative Schauer-Realitäten, um sich in dem wohligen Gefühl zu räkeln, dass das Gewohnte und Gewöhnliche jederzeit auf sein Comeback wartet.

Die gebrochene, multiplizierte Fiktion hat damit längst das Vertrauen in sich selbst verloren. Sie grübelt über die eigenen Alternativen vergangener Verfehlungen, bläst sie auf, um ihnen anschließend wieder die Luft entweichen zu lassen. Am Ende zersetzt sie sich damit selbst, raubt ihrem Publikum unnütze Lebenszeit, ohne etwas Sinniges erzählen zu müssen. Und die surreal schwebenden, kopfstehenden Trümmerteile dieser Comic-Welt sind nur noch Überreste ihrer Bedeutungslosigkeit.

„Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ läuft ab dem 4. Mai 2022 in den deutschen Kinos.

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Bildquelle:

  • doctor-strange: Disney
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