Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs findet der Wehrmachtssoldat Willi Herold eine Offiziers-Uniform. Er zieht sie an – und gibt sich von nun an als Hauptmann aus. Robert Schwentke hat aus dieser wahren Geschichte einen beklemmenden, bildgewaltigen Film gemacht.
April 1945, es ist Nacht irgendwo in Deutschland, und im „Hotel Oranien“ herrscht der Exzess. Ein deutscher Hauptmann und seine Leibgarde feiern mit Prostituierten ein wildes Gelage. Arme, Beine, Weingläser, Federboas wirbeln durcheinander. Was die Anwesenden nicht wissen: Zum Feiern ist ihnen bald nicht mehr zumute. Was die meisten auch nicht ahnen: Ihr Hauptmann ist gar kein Hauptmann – sondern ein Hochstapler.
„Der Hauptmann“ von Regisseur Robert Schwentke basiert auf der Geschichte von Willi Herold, der von 1925 bis 1946 lebte und schließlich von den Alliierten wegen seiner Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt wurde. Im Film findet der Gefreite Herold am Straßenrand kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs eine Hauptmanns-Uniform. Er probiert sie an und gibt sich von nun an als Offizier aus. Einige Soldaten schließen sich ihm an, froh, endlich wieder Befehle ausführen zu dürfen. Die Gruppe gelangt in ein Gefangenenlager im Emsland – und verrichtet dort schlimme Kriegsverbrechen.
Schwentkes Film ist ein spannendes, beklemmendes Werk. Nicht nur die unglaubliche Geschichte raubt einem den Atem. Der 24-jährige Max Hubacher spielt Herold mit einer eisigen Kälte. Ganz leichte Mienenzüge verraten, was in ihm vorgeht: Der Stolz, in Uniform plötzlich eine Bedeutung zu haben. Die Angst, als Offizier zum ersten Mal jemanden erschießen zu müssen. Die Ekstase, die das Morden irgendwann in ihm auslöst. Hubacher changiert dabei stets zwischen einer jugendlichen Unschuld und brutaler Härte.
Auch die anderen Rollen sind toll besetzt. Frederick Lau spielt den Soldaten Kipinski, dessen Brutalität keine Grenzen kennt. Völlig berauscht, fast animalisch macht ihn die Gewalt, die er unter Herolds Kommando ausüben kann. In den Augen des treuen Freytag (Milan Peschel) wiederum schimmert immer größere Panik, als er miterlebt, wie die „Kampfgruppe Herold“ völlig außer Kontrolle gerät.
Die Bildsprache des Schwarz-Weiß-Films ist gewaltig. Auf dem spanischen San Sebastián Film Festival, wo „Der Hauptmann“ vergangenes Jahr lief, wurde Kameramann Florian Ballhaus mit dem Jurypreis für die Beste Kamera ausgezeichnet. Er ist der Sohn von Michael Ballhaus, der mit seinen 360-Grad-Kamerafahrten, dem „Ballhaus-Kreisel“, in Filmen von Martin Scorsese oder Rainer Werner Fassbinder Berühmtheit erlang.
Auch im „Hauptmann“ wirbelt die Kamera dynamisch um ihre Akteure. Sie liegt mit Herold auf dem Boden, humpelt mit ihm über die Gleise, oder schwebt hoch erhaben mit ihm über allem. Auch in den Genuss einer 360-Grad-Fahrt kommen die Zuschauer.
Mehrmals gibt der Hauptmann die Auskunft, er sei auf Sondereinsatz, müsse „Bericht erstatten von der Lage vor der Front, mit Vollmacht vom Führer selbst“. Unglaublich, wie weit er damit kommt. Mit der Uniform stülpt er sich ein anderes Wesen über und niemand hinterfragt sein Auftreten. Diese besondere Autoritätshörigkeit der Deutschen funktionierte schon beim „Hauptmann von Köpenick“, dessen Geschichte Carl Zuckmayer einst literarisch verarbeitete. Er, der eigentlich ein Schuhmacher war, musste sich ebenfalls nur eine Uniform anziehen, damit die Leute kuschten.
Auch ein Massaker muss „seine Ordnung haben“, erklärt Hauptmann Herold irgendwann. Dann stellt er die Gefangenen erst in Reih‘ und Glied auf, bevor sie erschossen werden. Die Figuren haben diese Mischung aus Bürokratentum und Nazi-Terminologie verinnerlicht: Einer beschwert sich über die „nicht ordnungsgemäße Beseitigung von 90 Gefangenen“. Es sind Täter, wie es sie während der Diktatur der Nationalsozialisten viele gab. Unscheinbare Leute aus den hinteren Reihen, die alles machen, um nicht selbst zum Opfer zu werden.
Weite Einstellungen zeigen währenddessen die Landschaft in all ihren trostlosen Grauschattierungen. Dunkel leuchtet das Blut auf den Gesichtern der Figuren. Am Ende schreitet Herold über einen Haufen Skelette in den Nebel eines Waldes. Lange wird er nicht mehr leben.
Für Schwentke ist die Geschichte damit nicht vorbei. Im Abspann fährt die Kampfgruppe Herold durch das heutige Görlitz, plötzlich ist alles in Farbe. Eine kurze farbige Szene gibt es auch in der Mitte des Films: Heutiger Blick auf den Acker, wo früher das Gefangenenlager war. Die Frage, was Herolds Geschichte mit unserer Zeit zu tun hat, muss sich am Ende jeder selbst beantworten.
[Lisa Forster]
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