Für die Branche ist die 71. Berlinale bereits vorbei, für das Publikum steht sie nun bevor. Das sind einige der besten Filme des diesjährigen Programms:
Limbo
Ein Cop und sein junger Kollege wagen sich in die Slums Hongkongs, um einen Serienkiller zu jagen, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Es folgen 100 Minuten Adrenalinkino, die mit Vollgas in den Schrecken hineinsteuern. Mit einer Geradlinigkeit, die vielleicht noch mit George Millers „Mad Max: Fury Road“ vergleichbar ist. Regisseur Soi Cheang liegt nicht viel am Plot. „Limbo“ grast eigentlich nur typische Tropen ab, die man aus Klassikern wie Finchers „Sieben“ kennt. Seinen Film muss man vielmehr als grausam schönes Gemälde begreifen. In den umwerfendsten Schwarz-Weiß-Bildern, die es seit langer Zeit zu sehen gab, entwirft „Limbo“ die Horrorvision der modernen Großstadt, die die Brücke zu Fritz Langs „Metropolis“ schlägt.
Während am Horizont die Wolkenkratzer der Wohlhabenden in die Höhe schießen, verwandeln sich die Armenviertel in einen vergessenen Raum, eine Müllhalde, auf der sich das Elend nur noch in Barbarei verwandeln kann. Figuren kriechen über Berge von Morast, zwängen sich durch beklemmende Gassen. „Limbo“ führt in ein grausiges Labyrinth, in dessen Zentrum ein apokalyptischer Showdown steht. Ein fader Beigeschmack bleibt: Die Brutalität gegenüber den ausschließlich leidenden und sündigenden Frauenfiguren nimmt ein Ausmaß an, das sich an der Grenze zu Exploitation und Misogynie bewegt.
Seven Years Around the Nile Delta
Der längste Film der 71. Berlinale ist einer der besten. Sharief Zohairy entführt das Publikum zu einer fünfeinhalb Stunden dauernden Reise durch die Nildelta-Region. Ein Versuch, das eigene Land in seinem Wandel zu begreifen und über mehrere Jahre hinweg entstanden ist. „Seven Years Around the Nile Delta“ sticht dabei aus einer Menge an meist grässlichen Reisefilmen deutlich heraus.
Zohairy inszeniert sich nicht als Protagonist, der womöglich in ewiges Erklären gerät, generell wird hier etwa auf eine lästige Voice-Over-Stimme verzichtet. In diesem Film sprechen Raum und Zeit, die Kamera ist der Protagonist. Tourismus entwickelt sich hin zum Reisen, die immense, aber nie langatmige Laufzeit benötigt man dafür. In einer der eindrucksvollsten Szenen wird im dröhnenden Lärm der nächtlichen Stadt religiöser Eifer zelebriert, Menschenmengen quetschen sich durch die Straßen, während sich das Individuum mit der Kamera auf einem Karussell aufzulösen scheint. Ein großes Dokument, eindrucksvolle Momentaufnahmen, durchweg hypnotisch!
Vị (Taste)
Ein Debüt, das wenige Sekunden braucht, um einen in seinen Bann zu ziehen. Dessen Bilder mit einer solchen Schönheit aufleuchten, dass man sich sofort in ihnen verlieren kann, mögen sie noch so finster sein. In Lê Bảos erstem Langfilm kreiert sich ein nigerianischer Migrant in den Slums von Ho-Chi-Minh-Stadt einen Rückzugsort. Er zieht bei vier Frauen mittleren Alters ein. Gemeinsam wandeln sie, gespenstergleich, nackt durch den Alltag, der nunmehr vor allem aus profanen Ritualen besteht. Das Zubereiten von Nahrung, das Waschen der Haare und Geschlechtsverkehr werden wie sakrale Rituale vollzogen.
In bunkerartigen Räumlichkeiten werden die Grenzen von Tier und Mensch auf die Probe gestellt. Alte Traumata zerstören den geschützten Raum. Zugleich ein Film, der von geplatzten Auswanderungsträumen erzählt, von Schattenseiten der Globalisierung und Ausbeutung. „Taste“ zeigt die Postapokalypse in der Gegenwart, sinnentleerte Produktionsprozesse in trostlosen Fabriken, Leiber, die zu Körpern werden wollen. Eine ungeheuer intensive Meditation.
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?
Was im Kino heute noch möglich ist, welcher Zauber ihm innewohnen kann, das zeigt Alexandre Koberidze in seinem zweiten Langfilm. Ein Mann und eine Frau begegnen sich zufällig, es funkt sofort. Die Kamera zeigt dieses Treffen nur fragmentiert. Generell sucht die Kamera in „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ immer wieder die unscheinbaren Details, die Handlung ist da gar nicht so wichtig. Ein Film mit Lust am Fabulieren, am Märchenhaften, wie ein Fotoalbum, das beim Umblättern ein Eigenleben entwickelt und seine Bilder in alle Richtungen über die Ränder wachsen lässt.
Nach einiger Zeit wird das Publikum per Texttafel aufgefordert, die Augen zu schließen. Wenn es sie wieder öffnet, haben sich die beiden Hauptfiguren verwandelt und damit beginnt der zweite Akt dieses ausschweifenden, magisch-realistischen Kinotrips, der sich immer wieder zum Wundersamen hingezogen fühlt. Zugleich geht es um das Medium Film selbst und um König um Fußball, um fußballverliebte Hunde und Menschen, die sich permanent in Wettkämpfen und Turnieren messen müssen. Dass die Jury dieses Wunderwerk mit keinem einzigen Preis zu würdigen wusste, ist der größte Skandal dieser Berlinale!
Voraussichtlich in der zweiten Hälfte 2021 im Kino
Herr Bachmann und seine Klasse
Der schönste Schultag, den man vermutlich jemals erlebt hat, und zugleich der vielleicht schönste Film, der jemals über den Schulbetrieb gedreht wurde. Maria Speths Dokumentarfilm begleitet eine Schulklasse vor den Sommerferien. Ihr Lehrer, Herr Bachmann, tut alles dafür, aus seinen Schützlingen weltoffene, interessierte Bürgerinnen und Bürger zu machen.
„Herr Bachmann und seine Klasse“ taucht dreieinhalb Stunden lang in den turbulenten Schulalltag ein und zeigt neben allerhand anrührender Situationskomik die Grenzen eines Schulsystems auf, dem mehr an Fachstoff liegt als an zwischenmenschlicher Erziehung, an gelebter Integration, Toleranz und Respekt. Herr Bachmann will mit positivem Beispiel vorangehen und rückt genau diese letztgenannten Werte in den Vordergrund. Wie schwierig es ist, gegen Vorurteile und festgefahrene Weltbilder, in die Kinder hineinwachsen, vorzugehen, davon zeugt dieser Film auf zurückhaltende und dennoch präzise beobachtete Weise. Unterhaltsamer und anrührender war Dokumentarkino in den vergangen Jahren selten.
Regulärer Kinostart am 16. September 2021
Wheel of Fortune and Fantasy
Ryusuke Hamaguchi spinnt drei strikt durchorganisierte Kurzgeschichten über Liebe und Zwischenmenschlichkeit im 21. Jahrhundert und allerhand peinliche Missgeschicke. Eine Freundschaft verwandelt sich in eine Dreiecksbeziehung, eine amouröse Rache geht schief und eine Verwechslung auf der Straße entwickelt sich in eine ungeahnte Richtung. Hamaguchi erzählt in den (für seine Verhältnisse) kurzen zwei Stunden von den fließenden Übergängen zwischen Zuneigung, Abhängigkeitsverhältnissen und Machtgefällen, die sich Menschen immer wieder neu konstituieren, von der Büroangestellten bis zum Fremdenbesuch.
Gekrönt von einer finalen Versöhnung in der Liebe zum und Anerkennen des Verstellens. Drei Kurzfilme von ungeheurer Vielfältigkeit und Formvollendung. „Wheel of Fortune and Fantasy“ zeugt von perfekter Drehbuchkunst, ebenso minimalistisch wie intensiv inszeniert, und mit einem wunderbaren Gespür für Humor und böse Überraschungen.
Bad Luck Banging or Loony Porn
Ein Pornovideo als Einstieg, der Schockmoment dieser Berlinale. Gedreht wurde es von einer Lehrerin und ihrem Liebhaber. Blöd: Das Video landet im Netz. Ein Elterntribunal soll den Fall nun verhandeln und damit ist nur der Rahmen abgesteckt für diese zynische und ungeheuer unterhaltsame, vielseitig inszenierte Gesellschaftssatire. Radu Judes Film ist nicht einfach nur einer über Rumänien, sondern generell über eine Welt, die vom Material vereinnahmt ist und das Perfektionierte, Aufgesetzte liebt, das nur einen falschen Satz, eine unbedachte Tat erfordert, bis alles ins Chaos stürzt.
Das finale Wortgefecht erobert einen schnell mit seinem Irrwitz, seinem diskursiven Rundumschlag, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt und man immer wieder zwischen Schock und Belustigung changiert. Die eigentliche Attraktion sind jedoch die ersten beiden Akte. Das tragikomische Großstadtportrait, das Auge für die entscheidenden Details und das alternative Alphabet, das nicht nur die moderne Alltagswelt, sondern die Sprache des Kinos gleich mit auseinandernimmt und neu zusammensetzt, ähnlich wie es zuletzt Jean-Luc Godard in „Goodbye to Language“ und „Bildbuch“ getan hat. Zum Schluss scheint uns nur noch Wonder Woman retten zu können. Als Sinnbild popkultureller Doppelmoral. Der beste Film dieser Berlinale!
Voraussichtlich in der zweiten Hälfte 2021 im Kino