Kenneth Branagh hat mit „Belfast“ einen eher drögen Liebesbrief an seine Kindheit in der gleichnamigen Stadt inszeniert. Ab sofort gibt es den mehrfach Oscar-nominierten Film in den Kinos zu sehen.
Es gehört eine große Portion Wage- und Übermut dazu, die eigene Lebensgeschichte auf die Leinwand zu bringen. Groß sind dabei die Mühen, das richtige Maß an Abstraktion und Distanz zur erlebten Biographie zu finden. Noch größer und gravierender ist die Hürde, das Universelle der eigenen Erlebnisse herauszufiltern. Zuletzt sind prominente Filmemacher wie etwa Pedro Almodóvar („Leid und Herrlichkeit“), Alfonso Cuarón („Roma„) oder Paolo Sorrentino („Die Hand Gottes“) diesen Weg gegangen, Steven Spielberg legt demnächst nach.
Ihre Versuche können als geglückt bezeichnet werden, sei es aufgrund geschickter Brüche in der Fiktion (Almodóvar), in der Beobachtung gesellschaftlicher Rollenspiele (Sorrentino) oder in der Perspektivverschiebung hin zu marginalisierten Nebenfiguren (Cuarón). Von solcher Klasse sind Kenneth Branaghs verfilmte Kindheitserinnerungen leider ein ganzes Stück entfernt. „Belfast“ ist hingebungsvoll ausgebreitetes 60er-Jahre-Zeitkolorit, dem allerdings weder eine aufregende oder kritische Selbstbespiegelung noch ein politisch allzu erhellender Film gelingt, obwohl er mit großem Gestus vom Ende eines scheinbar unbedarften Daseins erzählen will.
Ein Mauersprung in die Geschichte
Branagh betrachtet seine Kindheit wie ein staunender Besucher. Folgerichtig, dass „Belfast“ mit Eindrücken der heutigen Stadt eröffnet, als wären bei der örtlichen Tourismusbehörde noch Aufnahmen übrig gewesen. Ein einzelner Schwenk über eine Mauer genügt schließlich, um vergangene Zeiten wieder lebendig werden zu lassen. Der frühere Shakespeare-Spezialist Branagh verwandelt die gegenwärtigen Orte in eine Bühne für deren Historie und seine Autofiktion. Die Bilder verblassen, mit der Zeitreise zurück in die 1960er verliert der Film seine Farbe. Sie wird auch im übertragenen Sinne selten wiederkehren.
1969 schlendert nun der neunjährige Buddy, das Alter Ego von Regisseur Branagh, durch die Straßen. Ein Kind aus der Arbeiterklasse. Die Geldnot ist groß, die Zukunftsaussicht wenig rosig. Vater muss pendeln, um die Familie ernähren zu können. Und doch scheint das Miteinander noch in Ordnung zu sein. Kinder tollen auf der Straße, die Nachbarschaft plaudert freundlich, bis plötzlich ein brutaler Tumult entflammt. Politik bricht in das Idyll. Die gesellschaftlichen Spannungen, Katholiken gegen Protestanten, führen immer wieder zu Gewalt. An ihrer Durchdringung ist „Belfast“ kaum interessiert, er menschelt sich vielmehr durch den Alltag der „kleinen Leute“, beobachtet durch Kinderaugen, die sich ein nunmehr erwachsener Mann aneignet, um einen ebenso naiven Film zu drehen.
Oscar-Kino aus dem Lehrbuch
Branagh begeht den Fehler, dass er das Aufwachsen in diesem turbulenten Milieu so betulich mit den Umständen der Zeit verwickelt, bis diese als reine Kulisse erscheinen. Ihre bloße Existenz soll zum großen Politikum genügen. Man möchte zwischendurch ungeduldig auf die Uhr schauen, so groß ist die Sehnsucht, es möge doch endlich etwas Interessantes in diesem durchgeblätterten Familienalbum passieren, das einen auch heute noch etwas angeht.
Ja, da sind allerhand Stichworte, die sich aus dieser Zeitkapsel herausschälen wollen. Die soziale Frage, Migrationsgeschichten, Zukunftsängste, familiärer Zusammenhalt, eine Entfremdung von der trauten Heimeligkeit. Alles spielt irgendwie eine Rolle und verliert sich doch überwiegend im Eindruck eines blassen Historienfilms, der sich am liebsten das Genre „Oscar-Kino“ auf die Fahne schreiben möchte – bekanntlich mit Erfolg, sieben Nominierungen gab es von der Academy. Selbstverständlich greift Branagh Konflikte auf, die sich auch Jahrzehnte später noch sozial und räumlich eingeschrieben haben. Sie so museal in Wohnzimmer- und Hinterhofplausch abzukapseln, wie in „Belfast“ der Fall, belässt sie dennoch in inkonsequent wohliger Ferne.
Branagh über „Belfast“
Der Filmemacher selbst sagt laut Verleih über sein Werk: „Ich wünsche mir, dass die Menschen die Freude und mitunter auch Sorgen der Stadt spüren und mit der Familie im Zentrum der Geschichte mitfiebern, mit ihnen sympathisieren und sich darin wiedererkennen. Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer aus diesem Film das Gefühl mitnehmen, dass wir alle nicht alleine sind, dann wäre ich wirklich begeistert.“. Nun, von diesem Gefühl kann man vielleicht zehn Minuten zehren, bevor all die Bilder und Emotionen im Nebelschleier der Gleichgültigkeit verschwimmen.
Allzu schablonenhaft und altbacken erscheint diese Ortsbegehung. Alles ergötzt sich etwas zu sehr an seinen säuberlich zerfallend hergerichteten historischen Schauplätzen, bis sie sich in aufgesetzte Künstlichkeit zurückziehen. Die Figuren, das ganze Ensemble, von Jamie Dornan über den Nachwuchsdarsteller Jude Hill bis Judi Dench, kämpft um Konturen und Reibepunkte. Am Ende herzen sich alle nur um die Wette.
Kino-Magie als Kitsch
Allen, die geblieben sind, die fortgegangen sind und die verlorengingen, ist dieser Film in einer Abspanntafel gewidmet. Eine zärtliche Geste verliert jedoch an Bedeutung, wenn man sie an jeden verteilt. Sie fasst das Problem von „Belfast“ gut zusammen. Allen will es Kenneth Branagh recht machen, jeder soll in den knapp 100 Minuten sein eigenes Gefühl von Vertrautheit erleben können. Vorhandenes technisches Geschickt weist sich dabei in erster Linie als Handwerk aus, die verteilten Pflaster an ihren Rändern glattzustreichen.
Möglichst kleinteilig und naturalistisch möchte „Belfast“ sein Zeit- und Lebensgefühl erlebbar werden lassen und verliert sich in hübsch ausgeleuchteten Gefälligkeiten aus der Programmkino-Wohlfühlecke. Branaghs brisanter Stoff eignet sich eben nur bedingt, um daraus allein tröstliche Familienunterhaltung zu stricken. Ein gut gemachter, nett gemeinter, aber dadurch auch beliebiger, zahnloser Film ist dabei herausgekommen, der das Gestern in einer Glasvitrine ausstellt. Nur schauen, nichts anfassen, schnell weitergehen!
Vor allem auf eines kann man sich in historischen Umbrüchen und oberflächlich angekratzten Problemen hier einigen: die Kunst. Nur bei Besuchen im Theater und im Kino sind da plötzlich knallige Farbsprengsel auf der Leinwand zu sehen. Die Realitätsflucht bringt Farbe und Schwung in das Leben. Abgegriffener Kitsch ist das, den Kenneth Branagh anhand seiner nacherzählten frühen Hinwendung zur Kunst über das Publikum gießt. Überhaupt ist der Kunstbegriff dieses Films mäßig komplexer gestrickt, er verharrt wortwörtlich in Kinderschuhen. Wer in ihm nichts anderes als etwas anrührend drapierten, zaghaft vorantastenden Eskapismus sieht, dem wird die Geschichtsstunde zum bloßen Wundern und die Weisheit zur leeren Hülse.
„Belfast“ läuft seit dem 24. Februar 2022 in den deutschen Kinos.
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Bildquelle:
- belfast-cinema: 2021 Focus Features, LLC