Am 4. September 2015 machen sich Hunderte Flüchtlinge in Ungarn auf Richtung Deutschland. Tausende werden folgen. Das ZDF beleuchtet die Ereignisse zum Jahrestag in einem Dokudrama – mit Zeitzeugen und Schauspielern, mit Politikern und Flüchtlingen.
„In einer politischen Krise gibt es viele Schlaumeier, die sagen: Das hätte man ja alles wissen können“, sagt Thomas de Maizière. „Vor allem hinterher.“ Das gilt ganz besonders für jene rund 24 Stunden, die das ZDF in seinem Dokudrama „Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge“ (ZDF, 4.9., 20.15 Uhr) beleuchtet. Es geht um jene Stunden, als die Kanzlerin entscheidet, Hunderte, bald Tausende Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland reisen zu lassen.
Der damalige CDU-Innenminister de Maizière kommt als einer von mehreren Zeitzeugen zu Wort. Authentische Aufnahmen jenes Tages wechseln mit Sequenzen, in denen Schauspieler darstellen, was sich hinter den Kulissen ereignete.
Warum gerade jetzt dieser Film, zu einer Entscheidung, die historisch war, aber wohl noch zu jung ist für die Geschichtsbücher? „Wir hatten das Gefühl, dass man nicht warten muss bis zum berühmten Jahrestag fünf Jahr danach, zehn Jahre danach“, sagt Stefan Brauburger, Leiter der Redaktion Zeitgeschichte beim ZDF, der das Dokudrama an diesem Dienstag in Berlin vorstellte. „Wir hatten einfach das Gefühl, dass sich so viel Erkenntnisse jetzt um dieses Thema, um die exakte Rekonstruktion dieses Tages aufgestaut haben.“ Und dann habe es eben die Möglichkeit gegeben, Mohammad Zatareih vor die Kamera zu holen.
Zatareih verbrachte den 4. September 2015 ganz anders als Angela Merkel, er stand nicht am Rednerpult, er telefonierte nicht mit Regierungschefs und Ministern. Aber er gestaltete jene Ereignisse mit, auf die sie alle reagieren mussten. Der junge Mann aus Syrien, der damals mit vielen anderen Flüchtlingen am Budapester Ostbahnhof kampierte, beschloss, dass das so nicht weitergehen konnte und griff zum Megafon. „Ich hab‘ gesagt: Na, Leute, wir müssen von hier fortlaufen“, berichtet er, in einem Deutsch, das inzwischen deutlich sächsisch eingefärbt ist. Er rief die Flüchtlinge auf zu jenem Fußmarsch, der Hunderte von ihnen Richtung Österreich und von dort nach Deutschland führte.
Von dieser Gegenperspektive lebt das anderthalbstündige Dokudrama. Von 7.30 bis nach 8.30 Uhr am Folgetag begleitet die Kamera jenen Tag, der eigentlich „ruhig“ sein sollte, wie ein Mitarbeiter der Kanzlerin noch am Morgen verspricht. Immer wieder springt die Handlung über Grenzen, nach Ungarn.
„Ich hörte Geschrei, überall lagen Menschen auf dem Boden, Kinder, die schliefen, Leute, die so ein bisschen vor sich hin vegetierten. Es roch nach Schweiß, es roch unangenehm“, erinnert sich der Journalist Martin Kaul, der damals für die „taz“ am Budapester Ostbahnhof war. Die Menschen hätten sich um Brot und Wasser geprügelt.
Merkel selbst – im Film dargestellt von der Schauspielerin Heike Reichenwallner – absolviert Routine-Termine, besucht unter anderem die Technische Universität München, hält eine Rede in Köln zum 70-jährigen Bestehen der CDU in Nordrhein-Westfalen. „Jeder Tag hat feste Routinen, Termine, die man lange geplant hat, Wahlkampfkundgebungen, Parteiveranstaltungen“, sagt der damalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber. „Wenn wir die abgesagt hätten, hätte jeder sofort gefragt: Was ist da los?“
Viel ist berichtet worden über den 4. September 2015 und wirklich Neues fördert der Film nicht zutage. Aber er zeigt, wie Politik entsteht. Welche Fragen Merkel umtreiben an diesem Tag, der sie für viele zur Hassfigur machen sollte, das zeigt sich in den Gesprächen mit ihren Mitarbeitern, bei der Morgenbesprechung im Kanzleramt, in der Limousine zwischen Terminen, im Flieger, am Telefon. „Alle Dialoge beruhen auf Hintergrundgesprächen, die wir geführt haben“, erklärt Marc Brost.
Brost ist einer von zwei Drehbuchautoren des Dokudramas und als Leiter des Hauptstadtbüros der Wochenzeitung „Die Zeit“ in der Politik gut vernetzt. „In der Morgenlage, wenn acht oder zehn Leute um den Tisch im Kanzleramt sitzen, sind wir bei den Dialogen sehr weit und sehr nah gekommen. Wenn es Dialoge sind oder Telefongespräche, dann geht es nur noch darum, was gesprochen wurde – da können Sie nicht den genauen Wortlaut rekonstruieren.“
Ein Image-Film für die Bundesregierung sei das Ganze nicht, sagt Produzent Walid Nakschbandi auf eine entsprechende Frage. Die Macher hofften darauf, dass die Zuschauer über den Film diskutierten, über die Entscheidung, die deutschen Grenzen nicht zu schließen. Der frühere Chef des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, kommt ebenfalls zu Wort und bejubelt die Bundesregierung nicht: „Ich finde, das gehört zu den Aufgaben der Politik, dass sie auch unschöne Bilder aushalten muss“, sagt er in Anspielung auf eine mögliche Grenzschließung.
„Der Film beantwortet nicht die Frage, ob die Entscheidung richtig oder falsch war“, sagt Brost. „Aber er zeigt, auf welcher Grundlage sie getroffen wurde, wen diese Entscheidung betroffen hat und dann soll sich jeder ein eigenes Urteil darüber bilden.“
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