Nachdem der erste Schweizer „Tatort“ gehörig in die Hose ging, wagen die Eidgenossen nun einen neuen Anlauf – mit einer neuen, facettenreichen Kommissarin und einem brisanten Thema. Aus den alten Fehlern hat das Schweizer Fernsehen (SF) scheinbar gelernt.
Blasse Story, öde Dialoge. Und eine Kommissarin, die außer Sex wenig zu bieten hatte. „Wunschdenken“ – der Titel passte zur Pleite mit dem ersten Eidgenossen-„Tatort“ nach zehn Jahren. Nun folgt der zweite Versuch des Schweizer Fernsehens (SF), sich erneut in der prestigereichen TV-Krimi-Reihe zu etablieren. Mit „Skalpell“ am Pfingstmontag (20.15 Uhr) dürfte das gelingen.
Die Erleichterung in Schweizer Medien war nach der Zürcher Presse-Premiere einhellig. Zwar ziehe man in den ersten Minuten von „Skalpell“ noch unwillkürlich Vergleiche mit dem „Wunschdenken“-Flop, fand Arno Renggli von der „Aargauer Zeitung“. Doch schon bald sei der Film „einfach nur gut, packend und berührend“.
Bei einem Wohltätigkeitslauf wird der Chefarzt einer Kinderklinik im Wald erstochen aufgefunden – mit einem Skalpell im Hals. Der Verdacht fällt auf seinen Stellvertreter, denn der hat ein Verhältnis mit der Chefarzt-Gattin und sollte am nächsten Tag gefeuert werden. Dieser Einstieg deutet zwar auf Krimi-Massenware hin, aber das anfängliche Gähnen vergeht schnell.
Als die junge Schwester einer Assistenz-Kommissarin tot mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badwanne liegt, beginnt der Plot zu ticken. Ein brisantes Tabuthema ist der Schlüssel zum Tatmotiv: Intersexualität, auch Zwittertum genannt oder Hermaphroditismus. Es geht um Menschen, die sowohl mit weiblicher als auch männlicher Geschlechtsausprägung zur Welt kommen. Bei etwa einem von 5000 Kindern ist nach SF-Angaben nicht eindeutig, ob sie Junge oder Mädchen sind. Psychische Leiden spätestens mit Beginn der Pubertät sind dann oft programmiert.
Doch sowohl die Leiche als auch Lena (Ulrike Folkerts) verschwinden. Als Kopper endlich merkt, was los ist, ist es spät am Abend und ein kräftiges Gewitter droht alle Spuren zu verwischen. Der Kommissar setzt alles daran, seine Kollegin und Mitbewohnerin zu finden und zu befreien – jagt Suchtrupps und einen Hubschrauber los. „Wir suchen eine Stecknadel in einem Heuhaufen von 1800 Quadratkilometern“, sagt er.
Es gibt – so die Rahmenhandlung – unter Ärzten unterschiedliche Auffassungen, wie mit dem Zwitter-Phänomen umzugehen ist. Schon bald nach der Geburt, meinen die einen, muss eine Entscheidung für ein Geschlecht fallen, sollten Spuren des anderen operativ entfernt werden – bis hin zum chirurgischen „Bau“ von Penissen oder Vaginas. Doch was, wenn später die jeweils andere Prägung immer stärker wird, wenn Teenager spüren, dass sie „im falschen Körper leben“ und Eltern wie Ärzte ihnen verschweigen, woran das liegt?
„Tatorte“ zu gesellschaftlichen „Randthemen“ hat es auch früher schon gegeben. Die Gefahr, ins langatmige Erklären und Debattieren abzugleiten, war dabei immer groß. Drehbuchautor Urs Bühler und Regisseur Tobias Ineichen ist es gelungen, die komplizierte Thematik mit einer dramatischen Handlung zu verweben. „Skalpell“ bleibt nach Überwindung der Einstiegshürden durchgehend spannend und anrührend.
Nicht zuletzt, weil mehrere Intersexuelle von jungen Schauspielern eindringlich und überzeugend dargestellt werden. Im Vergleich bleiben die beiden Kommissare – Gutmensch Reto Flückiger und seine neue Kollegin Liz Ritschard – als Persönlichkeiten noch eine Spur zu blass. Dabei hatte Delia Mayer als neue Kommissarin allerdings keine leichte Aufgabe. Schließlich wird die 45-jährige Zürcher Sängerin und Schauspielerin mit ihrer mondänen Vorgängerin Sofia Milos verglichen, die wohl gut zu „CSI: Miami“ passte, aber als „Tatort“-Ermittlerin durchfiel.
Die Schweizer Zeitung „Tages-Anzeiger“ beschrieb Mayer als „Mischung aus burschikoser Großstadt-Lady und verletzlicher Power-Frau“. Als Kommissarin, die nach einem Arbeitsaufenthalt aus Chicago zurück nach Luzern kommt, hatte sie vom Drehbuch her kaum Möglichkeiten, den Charakter ihrer Rolle deutlich zu zeigen.
Man ahnt immerhin, dass Liz eigenwillig ist, dass es zwischen ihr und dem von Stefan Gubser wieder routiniert gespieltem Kommissar Flückiger auch kräftig krachen könnte. Bei „Skalpell“ stand aber noch die intensive Polizeiarbeit klar im Vordergrund. Das ist angesichts der ernsten Thematik verständlich und akzeptabel.
In weiteren Folgen werde man sicher schauen, „wie viel Platz das Ego der Kommissare einnehmen sollte“, meint Mayer. Damit wären die Schweizer „Tatort“-Macher tatsächlich gut beraten. Schade wäre es, wenn die zwecks Alpenkolorit immer wieder eingeblendeten Berge am Vierwaldstättersee die einzigen Mitglieder der Stammbesetzung bleiben, bei denen echte Ecken und Kanten zu erkennen sind.
[Thomas Burmeister/fm]
Bildquelle:
- Inhalte_Fernsehen_Artikelbild: Destina - Fotolia.com