Der Sprecher von Bert aus der „Sesamstraße“ als Triebtäter und Horst Tappert als Oberinspektor: Sie standen sich 1974 im Krimi-Meilenstein „Waldweg“ gegenüber. Gut gealtert ist der Film leider nicht.
Man weiß nicht so recht, welcher Mann in diesem alten ZDF-Krimi der unerträglichste von allen ist. Vielleicht ist es Lehrer Dackmann (fabelhaft schmierig gespielt von Herbert Bötticher), der junge Frauen für selbst schuld an jedem Übergriff hält: „Sie provozieren es doch geradezu. Sehen Sie doch mal, wie die angezogen sind. Röcke so kurz bis wer weiß wohin. Blusen, die sie immer halb offen haben. Sie sind auf Wirkung aus. Sie wollen wirken. Und auf wen? Auf Männer. Ja, und die Wirkung sehen wir ja jetzt.“ Später wird er zugeben, dass er von Teenagermädchen besessen ist.
„Das sind Luder, Flittchen“
Oder ist Bahnhofskiosk-Besitzer Huber (Walter Sedlmayr) dann doch der noch größere Kotzbrocken? Seine verweigerte Hilfe am späten Abend wird eine junge Frau auf dem Heimweg später das Leben kosten: „Das sind Luder, Flittchen“, schimpft der Alte gegenüber dem Bahnhofsvorsteher. Und was hat man von Lehrer Speidel (Siegurd Fitzek) zu halten, ein Befürworter der Todesstrafe? „Der Kerl, der das gemacht hat, ist einfach ein Dreckschwein, das man aufhängen sollte.“ Es geht um den Mädchenmörder, der zwei Schülerinnen hier im winterlich ungemütlichen Moorgebiet bei München mit Lederhandschuhen erwürgt hat.
Es ist ein befremdliches, verklemmtes, gefühlskaltes Nachkriegsdeutschland, das der ZDF-Krimi „Waldweg“ am 20. Oktober 1974 um 20.15 Uhr zeigt: die allererste Folge des Krimi-Dauerbrenners „Derrick“ (1974-1998) und damit ein Stück TV-Geschichte. Horst Tappert schlüpft erstmals in die Rolle des bayerischen Oberinspektors Stephan Derrick auf Mörderjagd. Ein Freitagskrimi in Bunt, nicht mehr in Schwarz-Weiß. Das ist etwas Neues.
Autor Herbert Reinecker und Regisseur Dietrich Haugk bauen immer wieder ironische, fast gesellschaftskritische Töne ein. Und inszenieren dann doch genüsslich leicht bekleidete Schülerinnen einer Hauswirtschaftsschule irgendwo im Nichts, gern auch beim Umziehen gefilmt. Was man heute „woke“ nennt, ist dieser 50 Jahre alte Film garantiert nicht. Selbst der dröge Derrick kommt im Vergleich als ein behutsamer Frauenversteher daher.
Ein deutscher Inspektor Columbo?
„Interessant an der Folge „Waldweg“ ist die Psychologisierung des Täters und damit einhergehend eine Vorwegnahme aktueller Täterprofile“, erklärt Wissenschaftlerin Prof. Joan Kristin Bleicher vom Institut für Medien und Kommunikation der Uni Hamburg.
Dazu muss man wissen, dass die frühen „Derrick“-Folgen ein ähnliches Strickmuster aufweisen wie die amerikanischen „Columbo“-Filme: Sie sind keine „Whodunit“-Krimis, bei denen das Publikum die Auflösung erraten muss. Man beobachtet stattdessen den Mörder sehr zu Beginn bei dem Verbrechen und freut sich später an dem Katz-und-Maus-Spiel mit dem Polizisten.
Bei der Erstausstrahlung von „Waldweg“ 1974 hält sich die Freude bei vielen Menschen aber in engen Grenzen. Zu realistisch und quälend lange erwürgt Chemielehrer Rudolf Manger sein Opfer Ellen Theiss, gespielt von Gabriele Lorenz. In heutigen Schnittfassungen fasst er nur kurz an die Kehle der Schülerin. Im Original dauert die brutale Szene sehr lange 20 Sekunden.
Schauspiel-Genie Wolfgang Kieling, dessen Stimme Millionen Kinder als brummigen Bert aus der „Sesamstraße“ kennen, spricht in diesem Film kaum ein Wort außer mit dem Opfer und mit seiner alten Mutter. Als Killer liefert er eine gespenstische Vorstellung eines kranken Muttersöhnchens ab, vermittelt vor allem durch seine starren, verhuschten Blicke.
In den 60ern gab es kaum Morde im TV
Apropos Gewalt: „Waldweg“ steht inmitten einer langen Entwicklung des deutschen Krimis, wie TV-Experte Oliver Kalkofe zu berichten weiß. „Anfang der 60er gab es noch kaum Morde im deutschen Fernsehen, Krimis waren eher Mangelware.“ Nach dem Erfolg von „Stahlnetz“ und der „Edgar Wallace“-Reihe im Kino sei das Krimi-Genre im TV dann immer stärker geworden, zunächst mit Betonung auf Ironie und Action – wie etwa bei der Reihe „Percy Stuart“ – und meist klassisch erzählt. „Durch den „Tatort“ und „Derrick“ näherte man sich langsam und behutsam auch neuen Erzählformen an und erlaubte sich neue Spielformen, Experimente fanden allerdings nur selten statt.“
In diesem Zusammenhang muss man vielleicht den ersten Auftritt des Oberinspektors sehen. Behutsam, fast zärtlich berührt er den Hals der Mädchenleiche, den in der Szene davor noch der Mörder gewürgt hat. Doch die weiche Seite währt nur kurz. Sekunden später staucht er seine Untergebenen zusammen und empfängt die ungeliebten Polizeireporter mit ausgesprochener Verachtung, er nennt sie „Sandflöhe“. Fritz Wepper als Inspektor Harry Klein darf vermutlich als einziger netter Mann in diesem seltsamen Krimi-Meilenstein gelten.
Christof Bock, dpa
Bildquelle:
- derrick: Heimatkanal