„Ree, ouch, hey, hm, la“, so beginnt der Siegersong des diesjährigen ESC. Ganz schön schrill. Der Triumph der Israelin Netta ist zwar keine Überraschung – aber es gibt unerwartet mächtige Konkurrenz. Auch Deutschland gelingt der Befreiungsschlag.
In Lissabon regiert die Frauenpower. Zwei Sängerinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, liefern sich beim Finale des Eurovision Song Contest bis zur letzten Minute ein Kopf-an-Kopf-Rennen – wie schon zuvor bei den Buchmachern. Am Ende macht Netta aus Israel das Rennen. Ausgeflippt, bunt, ja schrill ist sie, und singt energisch gegen Männer an, die Frauen unterdrücken oder ausnutzen wollen. „I’m not your toy!“, lautet der Refrain ihres K-Pop-Songs (Ich bin nicht Dein Spielzeug) – aber als die 25-Jährige begreift, dass sie gegen Eleni Foureira aus Zypern das Rennen gemacht hat, kommen auch der Powerfrau die Tränen. Die andere, die feurige Foureira im Glitzer-Catsuit, die mit dem Dance-Popsong „Fuego“ die ESC-Bühne rockte, hat das Nachsehen.
„Der Sieg bedeutet, dass wir die Unterschiede zwischen uns akzeptieren und Diversität zelebrieren“, jubelt die grell geschminkte Netta in ihrem pink-roten Outfit, mit dem sie mutig ihre Kurven zur Schau stellt. Ihr Song passt geradezu perfekt in die derzeitige #MeToo-Debatte. Später sagt sie: „Ich denke, dass Authentizität ganz wichtig ist.“ Die Fans können es kaum fassen: „Israel, Israel“, rufen sie immer wieder und schwenken ihre Nationalflagge. Und dann „Netta, Netta!“ Die „Eleni, Eleni“-Rufe verhallen hingegen.
Bis zuletzt schien es, dass auch Michael Schulte mit seiner Ballade „You let me walk alone“ für Deutschland einen Platz ganz, ganz vorne holen könnte. Fast gelingt es: Der Sänger aus Norddeutschland, der in Buxtehude wohnt, wird Vierter, nur zwei Punkte hinter dem österreichischen Soul-Sänger Cesár Sampson, der – für viele überraschend – auf dem dritten Platz landet. Viele Zuschauer waren von der Performance des 28-jährigen Schulte begeistert, der in dem Lied von seinem verstorbenen Vater singt. Die aufblasbare Projektionswand im Hintergrund, auf die einzelne Worte seines Textes sowie Fotos von Vätern und Söhnen geworfen wurden, machte den Act zu einem der emotionalsten des ganzen Abends. Die Schmach der vergangenen Jahre mit letzten und vorletzten Plätzen ist für Deutschland vergessen.
Während die einen feiern, herrscht bei anderen Trauer. Viele bulgarische Fans, die auf einen Sieg des Beitrags „Bones“ von Equinox gehofft hatten, brechen in Tränen aus, als ihr Land nur den 14. Platz belegt. Auch bei den zyprischen Fans wird es still. Gastgeber Portugal landet sogar auf dem letzten Platz. Einige Zuschauer, die in Anlehnung an den Look von Cláudia Pascoal pinkfarbene Perücken getragen hatten, ziehen sich bedrückt die Haarpracht vom Kopf.
Auch Slowenien wagt sich mit einer nicht alltäglichen Frisur auf die Bühne, Lea Sirk tanzt mit rosa-schwarz gefärbter Mähne auf der imposanten ESC-Bühne. Die dänischen Wikinger, die ungarischen Hardrocker, die Operndiva aus Estland mit XXL-Ballkleid samt Projektionsfläche, der freche Lausbub mit Hosenträgern und Rucksack aus Tschechien: Die Show hatte etwas für jeden Geschmack und vereinte die verschiedensten Musik- und Modestile.
Auch einen Flitzer gab es wieder, leider keine Neuheit beim Song Contest. Dieses Mal traf es die Britin SuRie: Ein Mann entriss ihr das Mikro und brüllte kurz hinein, wurde aber schnell von Sicherheitsbeamten weggerissen und von der Bühne geführt. SuRie gewann schnell die Fassung wieder, bekam wieder ein Mikro in die Hand und sang ihren Song „Storm“ souverän zu Ende. „Ich bin total stolz auf sie, sie hat unter diesen schwierigen Umständen ganz toll performt“, meinte ein britischer Fan. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) bot der Sängerin sogar an, noch einmal aufzutreten, aber SuRie und ihr Team lehnten dies ab, „da sie extrem stolz auf ihren Auftritt“ seien. Am Ende landete die 29-Jährige auf dem drittletzten Platz – nämlich Rang 24 von 26.
Abgesehen von Siegern und Verlieren hat aber eine auf jeden Fall gewonnen am Samstagabend: Europa. Lissabon gelingt ein friedliches Fest unterschiedlichster Musik, eine farbenfrohe Mega-Party in einer der schönsten Städte Europas, mit Fans, die Flagge zeigen und sich ohne Konkurrenzdenken gegenseitig anfeuern. Eine Türkin, deren Land gar nicht dabei ist, applaudiert lautstark für den serbischen Beitrag, zyprische Fans plaudern mit Briten, ein Ire erklärt Michael Schulte zu seinem Liebling, israelische Fans sitzen mit Deutschen am Tisch.
Aber noch während des Wettbewerbs erreichen Nachrichten von einem Messerangriff im Zentrum von Paris die Altice Arena. Nach all den blutigen Anschlägen der vergangenen Jahre in so vielen Metropolen beweist Europa zur gleichen Zeit, dass es sich nicht unterkriegen lässt und keine Angst davor hat, weiter Mega-Events wie den ESC auszurichten. Die Italiener Ermal Meta und Fabrizio Moro haben das Eurovisions-Lebensgefühl mit ihrem Beitrag wohl am besten zusammengefasst: „Non mi avete fatto niente“: Ihr habt mir nichts antun können.
[Carola Frentzen]
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