RTL hat mit der Oster-Sause „Die Passion“ alles auf eine Karte gesetzt und den wohl hinreißendsten Quatsch der vergangenen Fernsehjahre auf die Beine gestellt.
Essen muss doch für immer gebrandmarkt sein. Man wird noch eine ganze Weile benötigen, um gänzlich erfassen zu können, welche Szenen sich dort am Mittwochabend abgespielt haben. Thomas Gottschalk hat noch in den ersten Minuten von „Die Passion“ Bilder versprochen, die man so im Fernsehen noch nicht gesehen hat – und so kam es dann auch.
RTL wollte die Passion Jesu neu erzählen, sie in die Gegenwart transportieren. Gleich in der Begrüßung verwies Gottschalk darauf, dass die Kinder heutzutage ja nur den Osterhase kennen würden, aber nicht wüssten, was in der Karwoche eigentlich passiert sei. Man wartete schon darauf, dass er auch noch ergänzt, die Jugend würde nur noch am Smartphone hängen, keinen Sport treiben und nicht mehr lesen. So oder so: Wer es vorher nicht wusste, weiß vermutlich auch nach der RTL „Passion“ nicht so recht, was in der Karwoche genau passiert sein soll. Zumindest abseits loser Plotpunkte, die hier nacherzählt werden, als handle es sich um das Recap einer Netflix-Serienepisode.
Selbst bibelfeste Christen dürften an diesem Abend die Geschichte aller Geschichten kaum wiedererkannt haben. Das letzte Abendmahl, der Verrat, die Hinrichtung – all das sollte nun so inszeniert werden, als würde es genau so heute in Essen passieren. Und so fährt der Heiland (Alexander Klaws ohne Tarzan-Langhaarperücke) mit der Buslinie 115 in Essen ein. Im Schlepptau hat er unter anderem Gil Ofarim und weitere „Freunde“ wie Prince Damien, Nicolas Puschmann, Sila Sahin und Stefan Mross.
Geisterstadt Essen
Den Begriff Jünger wollte man dem Publikum übrigens nicht zumuten, Thomas Gottschalks Rolle als Moderator sah wohl auch vor, die Passionserzählung hipp erscheinen zu lassen mit Begriffen, die die jungen Wilden heute so verwenden. So wird aus Judas der „Manager der Gruppe“ und Jesus ist „ein erfolgreicher Influencer“, der bald darauf einen Essener Konsumtempel durchwandelt, in dem sich nunmehr drei fotogeile (da sind die Smombies!) Kinder tummeln. Kein Wunder, dass Essen im Laufe dieser Clips mitunter wie leergefegt und künstliche Kulisse erscheint: Wenn Jesus mit seiner absolut uncoolen Gang zu Andreas Bouranis „Auf uns“ durch die Stadt tanzt, dann bleibt einem nur übrig, sich schnell in die Häuser zu retten.
Erst vor zwei Jahren, mitten im Lockdown, lief ein neu inszeniertes, wahrlich beeindruckendes Passionsspiel im Fernsehen. In „The Third Day: Autumn“ absolvierte Jude Law in einem Hybriden aus Performance, Fest und Spielfilm den Kreuzweg Jesu, um Anführer einer Sekte auf einer abgelegenen Insel zu werden, die den Schauplatz der Sky-Serie bildete. Diesen zwölf Stunden war dabei gelungen, das unberechenbare Live-Ereignis mit höchst immersiver, clever erdachter Filmsprache einzufangen und für das Archaische, Befremdliche und dennoch Zeitlose eine passende Ästhetik zu finden, die das postsäkulare Passionsspiel mit phantastischen Entrückungen und Spannungen anreicherte. In „Die Passion“ hat man sich über derartige Dinge spürbar wenige Gedanken gemacht.
Jesus und Calli an der Currywurst
Das RTL-Event mutet in seiner eigenen Sphäre vielmehr danach an, als hätte man es zu vorgerückter Stunde auf einer Betriebsfeier zusammengeschrieben. Und dann, dann singt Ella Endlich als Gottesmutter an einem Bauzaun. Und dann trifft Jesus Reiner Calmund am Currywurststand, weil der mal dick war und gerne isst. Ja, und dann wird Jesus von den Bullen abgeholt und trifft die beiden Schächer – Katy Karrenbauer und Wolfgang Bahro!
Bemerkenswert scheint derweil auch, dass dieses RTL-Passionsspiel rein gar nichts Wundersames versprüht, es in den inszenierten Einspielfilmen rein durchsäkularisiert wurde. Man brauchte in diesem Laientheater jedenfalls eine Weile, um zu begreifen, dass die neue Folge von „GZSZ“ schon vorbei ist. Nostalgisch erinnerten die Musical-Einlagen im urbanen Raum an alte „KIKA Tanzalarm“-Folgen. Oder auch an Schlagersendungen der dritten Programme, in denen Volksmusik-Stars in hanebüchen dekorierten Gärten drapiert werden, um zwischen Gebüsch und Gartenzwerg ihr Playback zu performen.
Die Passion wird „Unheilig“
Gesungen wurden hier nun deutsche Songs von Andreas Bourani über Silbermond und Tokio Hotel bis Udo Lindenberg und Andreas Gabalier. Zum Schluss gab Ella Endlich unter anderem noch „Geboren um zu leben“ zum Besten und beendete damit quasi die Abschiedstournee des Grafen (dieses Mal wirklich!). Man hat diese Songs ausgewählt, weil sie so gut zu den zeitlosen Themen der Passionsgeschichte passen sollen.
Ja, klar! Irgendwas mit Liebe und Gefühl war da schon bei. Und die Jünger sind auch mal durch den…Monsun gegangen. Und hinterm Horizont geht’s bekanntlich immer weiter. Nur nicht für Jesus, der wird von Mark Keller an die Polizei ausgeliefert. Wahrscheinlich – so suggeriert es zumindest „Die Passion“ – weil er zum letzten Abendmahl in einem Essener Restaurant Fladenbrote und Currywurst von einem anderen Imbissstand mitgebracht hat. Dass man für dieses Vergehen in Deutschland gekreuzigt wird, so abwegig erscheint das gar nicht.
Wundererzählungen auf der Schlemmermeile
Schnitt: „Jetzt schalten wir noch einmal zu unserem riesigen, leuchtenden Kreuz“ (O-Ton Gottschalk). Während sich also eine unverschämt große Zahl an TV-Stars und Sternchen durch die biblische Geschichte „spielte“ (über Martin Semmelrogges Gastauftritt als Barabbas und das Liebesduett Jesus-Judas müssen eines Tages gesonderte Abhandlungen geschrieben werden) trug am Mittwochabend eine Menschenmenge ein Kreuz durch die Stadt, unter anderem über die „Rüttenscheider Schlemmermeile“. „Essen erleben“, so hätte der Untertitel dieser Silmultanbühnenshow lauten können.
Bedrohlich ächzte das Kreuz zwischenzeitlich, als würde es jeden Moment entzweibrechen. Einstweilen durften ausgewählte Passanten unter Schweiß und Stöhnen von ihren Bezügen zur Religion erzählen. Ein paar Glaubensbekenntnisse hier, ein paar Friedensplädoyers dort. Die Erzählung einer Frau über die übersinnliche Begegnung mit einer Präsenz und die Wunderheilung ihres Gatten ließ doch glatt den Kameramann selbst aus den Latschen kippen. Man kann nur mutmaßen, aber ein „explosiv“-Beitrag über besagte Frau dürfte bereits in Arbeit sein.
Passion ohne Kreuzigung
Und das Grande Finale? Der 13. April 2022 sollte doch eigentlich in die Geschichte eingehen als Tag, an dem Alexander Klaws in Essen gekreuzigt wurde, doch Henning Baum alias Pontius Pilatus hatte für diesen Moment nur Enttäuschendes in petto. „Wer will denn das sehen!?“ – Ja…jeder!? Zum Schluss durfte sich das voyeuristische Publikum allerdings nur eine Standpauke anhören, man kenne solche Szenen schließlich schon genügend aus „Game of Thrones“. Keine Folter, keine Kreuzigung also in der RTL-Primetime.
Ignoriert wird damit die Tatsache, dass das Passionsspiel traditionell genau vom Anblick und der Erscheinung des versehrten Körpers lebt. Das erlösende, symbolisch vollzogene Opferritual hat man hier jedoch ausgespart, die Passion reingewaschen. Den Mythos vom grausamen Gewaltakt als Bedingung für die Erlösung hat man nun ersetzt durch den Mythos der Ella Endlich, die sich wahrscheinlich heute noch fragt, warum sie da die meiste Zeit allein mitten im Bühnen-Nirvana stehen und einen Song nach dem anderen performen musste.
Zum Schluss thront Alex Klaws plötzlich auf dem Dach und verkündet seine Botschaft. Man hatte ja wenigstens gehofft, er würde final wie Helene Fischer am Kran über die Menge fliegen und gen Himmel aufsteigen – Schwarzblende, Schluss, Applaus und Tony Award einheimsen! Oder eine Einladung zum nächsten Berliner Theatertreffen. Aber leider war einem auch dieser Moment nicht vergönnt.
Bereit für eine Wiederauferstehung?
RTL hat mit diesem freiwillig unfreiwillig komischen Abend, das kann man gänzlich ironiefrei sagen, eine neue Referenzmarke an Privatfernsehen-Nonsens kreiert. Man wird sich die kommenden Jahre wahrscheinlich noch oft an dieses Passionsspiel zurückerinnern. Dass dieses Vorhaben am Ende genau so schräg geraten ist, wie die ersten Ankündigungen vermuten ließen, kann wahrscheinlich auf verquere Weise nur als Glücksfall und beste Unterhaltung bezeichnet werden. Solcher Wagemut, solch sympathische Naivität und Risikobereitschaft sind im linearen TV-Programm zumindest eine Seltenheit, wenngleich das Maß an Unfug von Anfang an hoch genug war, um von einem sicheren Medienecho sprechen zu können. Dafür verdient der Sender durchaus einen gewissen Respekt.
RTL hat mit „Die Passion“ letztendlich ein popkulturelles Ereignis geschaffen, das die Kreativität in den sozialen Netzwerken in neue Höhen schnellen ließ, dem es mit seinem zelebrierten Trash-Fest für zwei Stunden gelungen ist, das lineare Fernsehen noch einmal auf ein Podest zu heben, vor dem sich alle kollektiv versammeln können. Insofern ist der offensichtlich kalkulierte und berechnende Quatsch bestens aufgegangen. Und wer weiß, Oberammergau hat sich bekanntlich geschworen, die Passion in regelmäßigen Abständen aufzuführen. Vielleicht zieht RTL in Essen nach? Oder versucht sich an der Adaption weiterer klassischer Stoffe? RTL scheint bereits Optionen zu prüfen (DIGITAL FERNSEHEN berichtete). Allein die Bibel gibt genügend her für die nächsten Jahrzehnte. Die Durchquerung des Roten Meeres, aufgeführt in Tropical Islands? Oder Kain gegen Abel mit Anouschka Renzi und Désirée Nick? Deutschland stünden glorreiche TV-Stunden bevor.
„Die Passion“ ist ab Ausstrahlung eine Woche lang bei RTL+ zum Streamen verfügbar.
Artikel aktualisiert am 14.04.22 um 22.18 Uhr