Fast wöchentlich lädt Michael Steinbrecher seine Gäste zum Gespräch, stets hat er nur ein Thema und 90 Minuten Zeit. Ganz intim soll die Talkrunde sein, aber immer schauen Steinbrecher beim SWR-„Nachtcafé“ Hunderttausende zu. Nun feiert die Show die 1000. Auflage.
Wenn der Applaus zu Beginn der Sendung aufkommt, redet Michael Steinbrecher oft einfach drauf los. Denn Zeit will er nicht verschwenden, Zeit ist kostbar für den Moderator des wöchentlichen SWR-TV-Talkklassikers „Nachtcafé“. Es sind wertvolle Momente, in denen er sich beim Flaggschiff des Senders den Geschichten widmen kann, um die es geht. Wenn er mit seinem halben Dutzend Gästen im Alten E-Werk in Baden-Baden zusammensitzt, wenn nur ein einziges Thema den Abend füllen soll. Ein Thema, 90 Minuten, 60 Prozent talk-unerfahrene Gäste, mit Promis auf Augenhöhe und einem Experten, das ist das Rezept seit mittlerweile 1.000 Sendungen.
Es sind die Geschichten und das Konzept, die dem „Nachtcafé“ ein Alleinstellungsmerkmal verleihen im Dickicht der deutschen Talkshows. Da wird erzählt und gebeichtet, geschwätzt, gelacht und argumentiert und weniger provoziert und lautstark gestritten. Seit sieben Jahren moderiert Steinbrecher die Sendung, bald 300 Mal hat er die bunt gemischte Truppe und seine Zuschauer mit seinem wiederkehrenden „Herzlich willkommen im „Nachtcafé“. Hallo“ begrüßt. Insgesamt werden die Türen des Nachtcafés am 8. Juli um 22 Uhr bereits zum 1000. Mal geöffnet – und Steinbrecher ist seit seiner Übernahme 2015 erst der zweite Moderator nach Wieland Backes, für den die Sendung das selbst ernannte „Wohnzimmer“ oder „liebstes Spielzeug“ gewesen ist.
Steinbrecher erst der zweite Moderator in 1.000 Folgen „Nachtcafé“
Das Alleinstellungsmerkmal verleiht dem „Nachtcafé“ einen Schutzstatus, aber Steinbrecher könnte sich auch weitere ähnliche Formate vorstellen. „Verbreiteter ist sicher der Talk mit Prominenten“, sagte der 56-Jährige. Er würde sich aber freuen, wenn auch andere den Weg des „Nachtcafés“ einschlagen würden. „Denn so eine Sendung ist wichtiger denn je in einer Gesellschaft, in der es anders als vor vielleicht 10 oder 20 Jahren nicht mehr so selbstverständlich ist, dass Menschen mit unterschiedlichen Positionen sich miteinander austauschen.“
Es gebe ein Bedürfnis der Menschen, zuzuhören und Dinge zu erfahren, ein Bedürfnis nach Differenziertheit und auch einen Wunsch, „komplexe Dinge auch komplex sein zu lassen“, sagt der langjährige „Nachtcafé“-Redaktionsleiter Martin Müller. „Zuschauer wertschätzen bei uns den ehrlichen Versuch, zu verstehen und nicht gleich zu urteilen.“
Allerdings seien solche Sendungen auch überaus aufwendig, sagt Müller. Wenn es dann heißt „Achtung Sendung, MAZ läuft“ sind oft Wochen sorgfältiger Recherche überstanden, die Gäste sind handverlesen, spezifisch Kundige wurden gesucht, mehrere Male geprüft und schließlich geladen. Zwei Teams haben jeweils zwei Wochen Zeit für die Vorbereitung einer Sendung.
Viele Online-Abrufe
Die TV-Runde hat laut SWR unter den Talkshows im Dritten am Freitagabend nach wie vor Top-Einschaltquoten mit einem Marktanteil von rund zehn Prozent im linearen Programm . Und sie weitet sich deutlich aus in den sozialen Medien, auf der Videoplattform Youtube und in Podcasts. „Die Zeiten, in denen die Leute pünktlich den Fernseher einschalten, die sind rum“, sagt Müller. „Unsere Zuschauer holen sich die Show oft auch von den Plattformen, also in der Mediathek und auf YouTube.“ Dort seien die Abrufzahlen entsprechend hoch. Vor allem auf Youtube würden zudem Meinungen ausgetauscht.
Laut SWR wurde das Nachtcafé allein bei YouTube 2021 mehr als 30 Millionen Mal aufgerufen, eine Steigerung von 100 Prozent gegenüber 2019. Dazu kommen noch drei Millionen Abrufe allein in der ARD-Mediathek im vergangenen Jahr, rechnet Steinbrecher vor, der neben dem SWR-Job auch Professor für Fernseh- und crossmedialen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund ist.
1.000 Mal „Nachtcafé“, Gespräche über Tierliebe und das zweite Leben, über Klima, Einsamkeit und die verlorene Heimat, über Vertrauen, Sex, Gendern und Rassismus oder Ehe. „Jede Sendung ist auch für mich eine Bereicherung, sie weitet meinen Horizont“, sagt Steinbrecher.
Schon bei Backes saßen die Gäste im Halbrund vor den Zuschauern, damals noch im kleinen Ludwigsburger Barockschloss, schon damals gab es stets nur ein Thema und ein souveränes Interesse am Anderen. Geändert haben die Macher zumindest für den Zuschauer wenig seither. „Das ist ein Langstreckenlauf“, sagt Müller. „Wir haben immer wieder kleine Veränderungen eingeführt, die am Ende vieles verändert haben.“
Es waren weitere Reformen angedacht, aber dann machte die Pandemie den Ideen zunächst einen Strich durch die Rechnung. „Aber der Kern des „Nachtcafés“ wird immer das Gespräch der Menschen sein und keine Show“, sagt Steinbrecher.
[Martin Oversohl]
Bildquelle:
- nachtcafe: obs/SWR - Das Erste