Es gibt sie in jedem Jahr: Die unglaublich schrägen Auftritte beim Eurovision Song Contest, die Millionen Zuschauer immer wieder zum Schmunzeln bringen. Doch auch auf tiefgründige Songs und außergewöhnliche Stimmen dürfen sich die Zuschauer freuen. In diesem Jahr in Baku mittendrin: Deutschland-Kandidat Roman Lob.
Über mangelnde Medienpräsenz kann der in diesem Jahr in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku ausgetragene Eurovision Song Contest nicht klagen. Doch waren es weniger die Sänger und deren Musik, die für Aufsehen sorgten, als vielmehr die ausgetragene Debatte um Menschenrechte und Meinungsfreiheit in dem autoritär regierten Kaukasusstaat. Ein sicherlich wichtiges Themen, doch für Künstler und Fans des Grand Prix ist das mangelnde Interesse an den Teilnehmern bedauerlich, denn es sind wieder reichlich skurrile Kandidaten und einigen wirklich gute Lieder dabei.
Der Preis für die schrägste Darbietung dürfte bereits vor den ersten Proben in der Crystal Hall in Baku vergeben sein – und zwar an die russische Oma-Truppe Buranowskije Babuschki (Großmütter aus Buranowo). Wenn die sechs Mütterchen zwischen 43 und 76 Jahren in ihren udmurtischen Trachten den Feiersong „Party For Everybody!“ schmettern, wird die internationale Fangemeinde ausflippen, soviel ist jetzt schon sicher. Für den Sieg dürfte das zwar kaum reichen, aber für den Finaleinzug und am Ende eine Top-Ten-Platzierung allemal.
In den Kampf um den europäischen Musikthron hingegen könnte ein anderer alter Recke eingreifen, dessen ESC-Nominierung zunächst mit Spott quittiert worden war. Nein, die Rede ist nicht von Ralph Siegel (66), der es auch diesmal wieder mit mehreren Beiträgen für mehrere Länder versuchte und letztlich den Kleinstaat San Marino mit einer Komposition überzeugen konnte. Gemeint ist Engelbert, der Schmalzonkel von der britischen Insel, der mit 76 Jahren als bislang ältester ESC-Solo-Interpret die Grand-Prix-Ehre des Vereinigten Königreichs retten soll. Seine getragene Ballade „Love Will Set You Free“ unterstreicht seine immer noch ausdrucksstarke Stimme, sie ist voller Gefühl, aber ohne Schmalz und könnte mit ihrem disney-haften Schluss die Mengen mitreißen.
Ein ganz anderes Kaliber ist die Ukrainerin Gaitana: Ihr beat-starker Song „Be My Guest“ eignet sich ebenso als Mitgröl-Fanhymne wie zum Abtanzen. Er würde damit hervorragend zur Fußball-EM passen, deren Co-Gastgeber Ukraine wegen des Umgangs mit Regierungskritikern ebenso umstritten ist wie Aserbaidschan. Doch auch beim ESC könnte die in Kiew geborene dunkelhäutige Sängerin mit kongolesischen Wurzeln mit einer feurigen Show auftrumpfen.
Musikalisch hochwertiger präsentiert sich Italien, wenn auch völlig unitalienisch: Nina Zilli haut dem Zuhörer einen von Jazz-Soul-Klängen umwehten Pop-Knaller entgegen, dem man sich kaum entziehen kann: „L’Amore È Femmina (Out Of Love)“ heißt der Song – und zweisprachig geht es auch durch die drei Songminuten. Kein schlechtes Konzept, um ein internationales Publikum anzusprechen und gleichzeitig etwas eigenes zu haben. Ein starker Beitrag der Italiener, die 2011 nach 13 Jahren Abstinenz überhaupt erst wieder auf das Grand-Prix-Karussell aufgestiegen waren und mit dem Jazzpianisten Raphael Gualazzi gleich Platz zwei belegten.
Doch die besten Chancen auf den Sieg im Teilnehmerfeld aus 42 Nationen dürfte wohl Schweden haben – zumindest rechnerisch. So hatten bei knapp einem Dutzend der Wettbewerbstitel schwedische Komponisten oder Textdichter ihre Finger mit im Spiel – unter anderem für Großbritannien und Italien. Und der eigentliche schwedische Beitrag „Euphoria“ von Loreen ist mit seinem Euro-Dance-Beat nicht der beste, aber auch nicht der schlechteste davon.
Apropos schlecht: Für viele unterirdisch, für viele aber auch Kult ist Österreichs Party-Rap-Beitrag „Woki mit Deim Popo“ des Duos Trackshittaz. Ähnlich wie der Kabarettist Alf Poier, der mit seinem schrägen Song „Weil der Mensch zählt“ vor neun Jahren den sechsten Platz holte, könnten die beiden Jungs aus dem Mühlviertel mit ihren wackelnden Neon-Popos für Aufsehen sorgen. Doch um Platz zwei auf der Absurditätsskala hinter den russischen Omas kämpfen auch der montenegrinische Satiriker Rambo Amadeus mit seinem Eurokrisen-Song „Euro Neuro“, die hyperaktiven irischen Zwillinge Jedward, die nach 2011 nochmal mit Iro-Frisur über die Bühne toben wollen, und die Holländerin Joan Franka, die bevorzugt in Indianer-Tracht auf Ntscho-tschi macht.
Und was ist mit Roman Lob? Einen Lena-Effekt wie anno 2010 hat es diesmal nicht gegeben, die Quoten des deutschen Vorentscheids „Unser Star für Baku“ waren enttäuschend. Dennoch überzeugt der 21-Jährige durch seine Natürlichkeit und seinen schüchternen Charme – und sein Song „Standing Still“ hat internationales Popformat, schließlich stammt er vom britischen Ausnahmemusiker Jamie Cullum. Viel wird davon abhängen, welche Künstler im Finale am 26. Mai die Startnummern 19 und 21 bekommen – und damit Lobs ruhige Balladennummer einrahmen. [Patrick T. Neumann/fm]
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