Das schwer erträgliche Abtreibungsdrama „Happening“ hat den Goldenen Löwen beim Filmfestival Venedig gewonnen. Eine passende Wahl vor dem Hintergrund des diesjährigen Programms.
Es wirkt ein wenig wie ein kleinster gemeinsamer Nenner. Ein schwacher Film ist „Happening“ (im Original: „L’Événement“) keinesfalls, im Gegenteil! Das Abtreibungsdrama der Französin Audrey Diwan gehörte mit Sicherheit zu den intensivsten Filmen, die man im Wettbewerb der 78. Internationalen Filmfestspiele von Venedig sehen konnte. Zugleich war das ein seltsam ausgeglichener Wettbewerb, in dem sich bis zum Schluss kein eindeutiger Favorit abzeichnen wollte.
Insofern hat sich die Jury unter dem Vorsitz von „Parasite“-Regisseur Bong Joon-Ho für einen Gewinnerfilm entschieden, der im Grunde alles vereint, was einen klassischen Festivalfilm auszeichnet, den man als politisch dringlich verkaufen kann, was er in gewisser Weise auch ist, aber der auch wenig nachhaltiges Diskussionspotential besitzt. Dabei gibt sich „Happening“ alle Mühe, ein kleiner Skandal für ein solches Festival zu sein! Mit drastischen, ungeheuer schmerzhaft anzusehenden Szenen geizt der Film von Audrey Diwan nämlich nicht.
Schwer erträgliche Momente
Erzählt wird die Geschichte einer jungen Studentin (fulminant: Anamaria Vartolomei), die im erzkonservativen Frankreich der 1960er ungewollt schwanger wird. Weil ihr ein Kind die Aufstiegschancen ruinieren würde, beschließt sie sich zu einem Schwangerschaftsabbruch, doch das gilt als absolutes Tabu. Niemand will ihr helfen, sowohl von Männern als auch Frauen bekommt sie heftigen Gegenwind, an dem sie fast zu zerbrechen droht und der sie an den Rand der Selbstzerstörung treibt.
Als Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung ist das mit klarem Standpunkt inszeniert und erzählt. Das Sittengemälde irgendwelcher reaktionären Geschlechterbilder lässt mehrfach schwer schlucken, da ist man noch nicht einmal bis zu den verstörenden körperlichen Szenen vorgedrungen. Zweifellos, „Happening“ war ein spannender Film dieser Festivalausgabe. Der gerade auch im Ausbreiten seines Familiengefüges ein gelungenes Maß an Subtilität mitbringt. Die Themen Mutterschaft und Weiblichkeit haben ohnehin einen prominenten Platz im Programm eingenommen, das mit Pedro Almodovars „Parallele Mütter“ eröffnet wurde.
Düstere Zeitdiagnosen
Zugleich muss man jedoch vorsichtig anmerken, dass man „Happening“ etwas arg Kalkuliertes, Berechenbares nicht absprechen kann. Beginnt der Film, weiß man nach einer Minute komplett, was er erzählen will, wie er sich anfühlen und wie er aussehen wird. Und genau so kommt es dann auch. Ihm fehlt ein wenig das Offene, eine zweite Ebene, über die man länger grübeln könnte. Der Film müht sich dafür zu sehr an seinem sozialrealistischen Schockeffekt ab.
Besagtes Abmühen spiegelt ganz gut einen Großteil des Festivalprogramms wieder, das häufig mit diesem Problem zu kämpfen hatte. Harten Tobak gab es da zu sehen! Filme wie der russische „Captain Volkonogov Escaped“, der polnische „Leave No Traces“ oder „Reflection“ aus der Ukraine befassten sich auf teils sehr extreme und explizite Weise mit den Themen Folter und Staatsgewalt. Außer Konkurrenz liefen die ebenfalls sehr blutrünstigen Horrorfilme „Halloween Kills“ und „Last Night in Soho“. Hoffnung für Welt und Gesellschaft haben da wenige Titel erweckt.
Ein Schwatz-Problem
Neben allerhand Gewalt konnte man indes leider den Eindruck bekommen, man könne einen Großteil der gezeigten Filme auch als Podcast hören. Zu wenige interessante und große Bilder gab es da zu genießen. Dafür musste man schon Denis Villeneuves „Dune„, den aufregendsten Film des Festivals, schauen. Oder Paolo Sorrentinos „Hand Gottes“ (Silberner Löwe) und den Western „The Power of the Dog“ von Jane Campion (Preis für die beste Regie), beide übrigens von Netflix. Ansonsten wurde jede Menge geredet und geredet in tristen Brennpunkt-Aufnahmen und überwiegend viel zu langen Laufzeiten. Der längste Wettbewerbstitel, „On the Job: The Missing 8“ dauerte ganze 208 Minuten.
Bis zum Ermüden haben diese Filme ihre Themen durchdiskutiert, anstatt auf ihre Audiovisualität zu vertrauen. Da war im Wettbewerb ein Film wie der italienische „Il Buco“ eine Wohltat! In dem Hybriden aus Dokumentation und Spielfilm wird eine Höhle in den 60er-Jahren erkundet und zwar ganz ohne Dialoge. Dafür gab es (verdient) den Spezialpreis der Jury.
Ausreichend Diskussionspotential
Man muss dem Filmfestival von Venedig allerdings lassen: Es gab durchaus Höhepunkte zu sehen, einige wenige wurden bereits genannt. Dazu zählen außerdem unbedingt noch das berührende Requiem „Ennio“ über den großen Komponisten Ennio Morricone, der Coming-of-Age-Geheimtipp „The Miracle Child“ aus der Biennale College-Sektion des Festivals oder der böse Anti-Urlaubsfilm „Sundown“ mit Charlotte Gainsbourg und Tim Roth.
Zudem angenehm überraschend: Dieses Festival bot insgesamt wenig, das völlige Gleichgültigkeit in einem auslösen würde. Selbst Gurken wie Ridley Scotts Ritterfilm „The Last Duel“, der neue Psychothriller „America Latina“ der überbewerteten D’Innocenco-Brüder oder der grässlich langweilige italienische Kostümschinken „Qui Rido Io“ über einen berühmten neapolitanischen Dramatiker boten zumindest ordentlich Aufregerpotential oder Amüsement.
Geglücktes Festival unter Corona-Bedingungen
Am Samstag ging das älteste Filmfestival der Welt zu Ende, das international überwiegend positives Echo erhalten konnte. Mit allerhand Star-Auflauf und großen Titeln im Programm hat man nicht gegeizt, gerade am ersten Wochenende. Über den roten Teppich flanierten unter anderem Oscar Isaac, Matt Damon, Kristen Stewart, Benedict Cumberbatch, Jamie Lee Curtis, Rebecca Ferguson oder auch Roberto Benigni.
Zudem scheinen die Corona-Maßnahmen, die auf den 3G-Regeln basierten, aufgegangen zu sein. Zumindest nach aktuellem Stand. Die waren allerdings auch Grund für einigen Ärger unter Presse und Fachbesuchern. Aufgrund der geringeren Auslastung in den Kinos waren die Tickets, die man sich für jede Vorstellung reservieren musste, heißt begehrt. Genau drei Tage vor jedem Screening hieß es: Smartphone oder Laptop zücken und wie irre die Seite aktualisieren, um sich einen Platz sichern zu können. So konnte und musste man natürlich auch seine Tage an der Adria verbringen. Bereits vor Festivalbeginn schien klar: Kein Film in diesem Programm kann so aufregend oder ärgerlich sein wie seine Ticketbuchung.
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- mostra: Janick Nolting