Hätte „Waterworld“ einen Prequel-Film, dann könnte er möglicherweise wie die europäische Produktion „Tides“ aussehen.
Hier sieht die Zukunft dermaßen übel aus, dass die Menschheit beschließt, auf den erdähnlichen Planeten Kepler 209 umzusiedeln, der allerdings auch eine höhere Strahlung besitzt. Und die macht die Menschen mit jeder weiteren Generation zunehmend unfruchtbar. Daher will man nach geraumer Zeit wieder zurück zur Erde und schickt ein dreiköpfiges Späher-Team zum blauen Planeten, um die Lage zu sondieren bzw. zu analysieren. Der Kontakt zur „Ulysses 1“ bricht ab, weshalb eine zweite „Ulysses“-Mission gestartet wird. Von den drei Insassen der durch die Atmosphäre stoßenden Raumkapsel überleben nur zwei die holprige Landung: Analystin Louise Blake („Angelique“-Star Nora Arnezeder) und stellvertretender Missionsleiter Tucker (Sope Dirisu). Weil letzterer eine Beinverletzung hat, erkundet zunächst ausschließlich Blake den ihr unbekannten Planeten und gerät in einen dichten Nebel. Tucker setzt die Signalpistole ein, um ihr den Weg zurück zur Kapsel zu weisen. Prompt taucht eine Silhouette im dichten Nebel auf. Das ging aber schnell! Leider handelt es sich nicht um Tuckers Kollegin, denn sein Signal hat jemand oder etwas anderes angelockt …
Während der Sintflut
Als Blake endlich die Landestelle erreicht, erkennt sie nur noch Schleifspuren im feuchten Sand. Offensichtlich gibt es hier Leben. Als sie den Spuren folgt, landet sie in Gefangenschaft und mitten zwischen die Fronten einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen jenen, deren Vorfahren auf der Erde zurück blieben, und jenen, die sie nach Jahrhunderte langer Abwesenheit wieder aufsuchen. Ein Kampf zwischen fortgeschrittener, technokratischer Zivilisation und einem biologischen Neubeginn einer zuvor gescheiterten Spezies entspinnt sich. Man kann auch sagen, dass die Auseinandersetzung zwischen einem unterdrückenden Patriarchat und einer weiblich geprägten Ursprungs-Kultur geführt wird. Für Louise ist es außerdem eine Suche nach ihrem verloren gegangenen Vater, der sie für die „Ulysses 1“-Mission verließ, als sie noch ein Kind war. Und all das findet in der Feuchtigkeit eines Planeten statt, der sich in kürzester Zeit selbst gereinigt hat und dies auch mittels Fluten und Taifunen weiterhin fortführt. So schnell wie der Wasserpegel hier ansteigt, findet das hauptsächliche Leben der Menschen auf Booten, Flößen und Schiffen statt. Der Dauerregen durchnässt so ziemlich alles. Und doch gibt es hier Kinder – ein Zeichen dafür, dass die Menschheit auf der Erde überleben könnte. Ist es aber wirklich ratsam, ebenjene Wesen wieder zurück zu holen, die den Planeten dermaßen vergiftet haben? Oder sollte nicht lieber eine völlig neue Kultur entstehen?
Kolonialismus-Problematik
Das von der Münchnerin Mariko Minoguchi („Mein Ende, Dein Anfang“) verfasste und von dem Schweizer Tim Fehlbaum („Hell“) filmisch umgesetzte Science-Fiction-Werk findet zum einen an sehr klaustrophobischen Schauplätzen wie einem metallenen Brunnenschacht, einem Boots- und schließlich Schiffsinneren statt und fällt auch bei den atmosphärischen und sehr schön fotografierten Außenaufnahmen nur selten mit motivlichen Schauwerten auf. Authentisch ist es dennoch und auch die Besetzung hat mit Nora Arnezeder und Iain Glen („Game Of Thrones“) zwei ausgesprochen hochkarätige Hauptdarsteller gefunden, die einander perfekt ergänzen. Den kleinen Eden Gough kennt vielleicht der ein oder andere aus den beiden „Jim Knopf“-Verfilmungen und auch Bella Bading („Tschick“) ist kein unbekannter Jungstar für Zuschauer der Öffentlich Rechtlichen. Beide Kinderstars nehmen wichtige Rollen ein und sorgen für einige der größten Spannungsmomente. Ähnlich wie bei Fehlbaums „Hell“ scheint auch hier das Budget relativ begrenzt gewesen zu sein, was sich durch die oben beschriebenen Handlungsorte (gedreht im Tagebau Welzow, Brandenburg) und die geringe Sichtweite im Nebel bemerkbar macht. Auch die Erzählgeschwindigkeit ist relativ niedrig, sodass die Handlung nur mühselig voranschreitet. Und doch hat man nie das Gefühl, etwas Unechtes zu sehen, oder dass die Schauplätze lediglich Kulissen seien. Wer große Menschheitsfragen gerne auf kleine, emotional fassbare Szenarien herunter gebrochen sieht, der wird also an „Tides“ seine Freude haben.
Text: Falko Theuner; Redaktion: Richard W. Schaber
Die vollständige Bewertung der Blu-ray zu „Tides“ findet sich im BLU-RAY MAGAZIN (Ausgabe 1/22)